Ganz anders sieht es in der Schule aus. Im Oktober 2012 erschien eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, bei der erstmals alle sechzehn deutschen Schulsysteme miteinander verglichen wurden. Dabei stellte sich heraus, dass im Schuljahr 2010/2011 50.000 Schüler von höheren in niedrigere Schulformen herabgestuft wurden. Das entspricht ziemlich genau der Einwohnerzahl der Stadt Speyer.
Nicht einmal die Hälfte, nämlich 23.000 Schüler, schafften es in eine höhere Schulform. Niedersachsen hielt mit einem Verhältnis von einem Auf- gegenüber zehn Absteigern den traurigen Rekord, und überhaupt konnte nur ein einziges Bundesland – Bayern, natürlich – eine umgekehrte Bilanz (1 : 0,9) vorweisen; das aber auch nur, weil dort schon am Ende der Grundschulzeit so kräftig gesiebt wird, dass von vornherein weniger Schüler den Sprung auf eine höhere Schule schaffen.
Rechnet man noch die 200.000 jährlichen Sitzenbleiber hinzu, werden in jedem Jahr genauso viele Kinder mit dem Stempel »mangelhaft« oder »ungenügend« versehen und aus ihren vertrauten Gemeinschaften herausgerissen, wie die Großstädte Chemnitz, Gelsenkirchen oder Kiel Einwohner haben. Das ist eine so haarsträubende Bilanz, dass die Selbstgerechtigkeit, mit welcher »der Staat« hierzulande noch immer für sich reklamiert, in Schulsachen der Maßstab aller Dinge – vor allem der Garant für Chancengleichheit – zu sein, einfach grotesk ist. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Gewalt an den Kinderseelen durch Aussonderung genauso geächtet wird wie heute schon die körperliche Gewalt. Das ganze Leben eines Menschen wird von seiner Kindheit geprägt, einer Zeit, in der er gar nicht anders kann als lernen. Die Frage ist nur, ob er lernt, dass er etwas kann und deshalb gerne weiter lernen will oder ob er die Erwartungen der Erwachsenen enttäuscht und deshalb aus dem System fliegt.
Zum Glück gibt es auch innerhalb des staatlichen Systems Schulen wie die Wiesbadener Helene-Lange-Schule, die Göttinger Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule oder die zu neuem Leben erweckte Berliner Rütlischule, die sich trauen, neue Wege zu gehen. Diese Schulen verdanken ihre Erfolge aber nicht einem staatlich verordneten System, sondern ausschließlich der pädagogischen Initiativkraft ihrer Lehrerinnen und Lehrer. Gerade sie sind der Beweis, dass autonome Schulen nicht etwa deshalb besser arbeiten, weil sie eine privilegierte Elternschaft haben, sondern weil sie die Verantwortungsfähigkeit aller Beteiligten zur Grundlage ihrer Arbeit machen. Im Unterschied zur Fußballbundesliga genügt es bei der Erziehung von Kindern nicht, die Zahl ihrer Auf- und Absteiger in der Balance zu halten, obwohl das – gemessen am Ist-Zustand – bereits ein Gewinn für die deutschen Schüler wäre. Worauf es ankommt ist vielmehr, dass jedes Kind lernt, diese Balance in seinem eigenen Leben herzustellen. Dazu braucht es aber keine Aussonderung, sondern reiche Erfahrungsräume, verlässliche Beziehungen und Zeit. Man nennt das auch Inklusion.
Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)