Es zeigt sich, dass die Kinder immer individueller werden und eine immer spezifischere, individuellere Förderung brauchen. Hinzu kommt, dass viele Eltern inzwischen die Auffassung vertreten, ihr Kind sei hochbegabt und benötige deshalb eine spezifische Förderung. Dadurch werden die Lehrer immer mehr unter Druck gesetzt, den verschiedenen Begabungen in einer Klasse gerecht zu werden. Es kommen verschiedene Methoden der Binnendifferenzierung zum Tragen, die seit vielen Jahren in der Grundschulpädagogik entwickelt worden sind. Ich höre dann oft die Frage: Ist das noch Waldorf? Daran können sich schnell innerkollegiale Konflikte entzünden, die sich bis in die Elternschaft hinein ausbreiten.
Sobald diese Diskussion ideologisch wird, ist sie in der Regel nicht mehr konstruktiv und spaltet die Gemeinschaft. Die Waldorfpädagogik bietet spezielle Ansätze, die Selbstorganisationskräfte der Kinder und einer Klasse in Bezug auf die Binnendifferenzierung zu aktivieren.
Zu den methodischen Grundlagen der Waldorfpädagogik gehört der sogenannte Dreischritt im Unterricht. Diese drei Schritte, die von Rudolf Steiner mit Schluss, Urteil und Begriff bezeichnet werden, sollen eine kindgemäße Form des Lernens ermöglichen. Das bedeutet: Im ersten Schritt führt der Lehrer die Kinder auf möglichst vielfältige Weise in das zu erkundende Lebensgebiet ein (Formenzeichnen, Schreiben, Rechnen, Künste, handwerkliche, wissenschaftliche Fächer ...) und erwärmt die Seelen der Kinder dafür soweit, dass in ihnen Fragen entstehen. Dies bildet die Grundlage für den zweiten Schritt: das individuelle Durcharbeiten und Sich-Vertiefen in das Thema. Anders als im Unterricht an einer staatlichen Schule folgt jetzt nicht direkt das Ergebnis in dem Fassen eines Begriffes, sondern es folgt eine Pause, damit das Aufgenommene in der Nacht verarbeitet werden kann. Erst frühestens am nächsten Morgen sollte dann an die Suche nach Begriffen herangegangen werden.
Im zweiten Schritt setzt die Möglichkeit der Binnendifferenzierung an. Hier sollte den Schülern die Möglichkeit gegeben werden, sich erst individuell, das heißt in Einzelarbeit, mit dem aufgenommenen Inhalt zu verbinden, darin einzutauchen und eigene Fragen zu entwickeln. Es hat sich bewährt, wenn sich daran eine Phase des kooperativen Lernens zum Beispiel in Lerntandems oder Kleingruppen anschließt, weil die Schüler in der Regel gut voneinander und miteinander lernen können. Aber auch das muss von der ersten Klasse an gelernt werden, damit es selbstständig angewendet werden kann.
Ich nenne diese Phase auch »Schülerschule«. In dieser Schule findet zwischen den Schülern eine natürliche Binnendifferenzierung statt. Jeder kann auf seinem Niveau mit anderen gemeinsam lernen. Das bedeutet, dass es in der Klasse deutliche Leistungsunterschiede gibt, die jetzt deutlicher zutage treten werden, als im Unterricht mit der ganzen Klasse. Das müssen sowohl die Lehrer als auch die Eltern akzeptieren und wertschätzen lernen. Den Schülern dagegen fällt das Lernen auf unterschiedlichen Niveaus in der Regel leicht. In dieser zweiten Phase des Dreischritts können Unterrichtsmaterialien, die die unterschiedlichen Leistungsniveaus bedienen, verwendet werden. Meiner Erfahrung nach lernen die Schüler schnell, wie solche Lernmaterialien für unterschiedliche Niveaus entwickelt werden können. Wenn die Schüler diese Materialien selbst entwickeln, lernen die Schnellen sehr viel dabei und allen anderen ist damit geholfen, weil es spezifische Materialien für die eigene Klasse sind und keine von Erwachsenen vorgefertigten Arbeitsblätter. Ich rate auch davon ab, solche Materialien an andere Klassen weiterzugeben, sondern rege an, jede Klasse ihre Lernmaterialien selbst entwickeln zu lassen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Pflicht-Hausaufgaben bei dieser Art des Lernens überflüssig sind, weil sich die Schüler von sich aus zusätzlich mit dem Thema beschäftigen, wenn es sie interessiert. Falls sie daran nicht besonders interessiert sind, helfen auch Pflicht-Hausaufgaben nicht, sich mit dem Inhalt stärker zu verbinden.
Der dritte Schritt besteht am nächsten Tag darin, dass nach einer kurzen individuellen Arbeit, in der jeder Schüler die eigenen Erkenntnisse in sich wachruft, entweder in einer Kleingruppenarbeit oder im Unterrichtsgespräch die Ergebnisse zusammengeführt werden. Es hat sich in vielen Praxisforschungsprojekten zum selbstverantwortlichen Lernen gezeigt, dass diese Form der Binnendifferenzierung sich von der ersten Klasse an aufbauen lässt und zu einer tragfähigen Form des gemeinsamen Lernens werden kann. So können die Schüler im Laufe der Jahre immer selbstständiger und selbstverantwortlicher lernen. Bedingung dafür ist, dass die Lehrer dafür den Raum bieten und die verschiedenen Lernformen übend anlegen – und dass die Eltern es aushalten, dass ihre Kinder so unterschiedliche Zugänge zu den einzelnen Lernbereichen haben dürfen. Ihre Leistungen werden dann nicht mehr in der bisherigen Form vergleichbar sein, sondern jeder Schüler wird sein eigenes Profil entwickeln.
Ich konnte in einer Reihe von Projekten beobachten, wie sich im offenen Spiel der Kinder und Jugendlichen – und übrigens auch der Erwachsenen – in jeder Gruppe auf eine selbstverständliche Weise eine Binnendifferenzierung einstellte, die sowohl der Gruppe als auch dem Thema entspricht. Diese Art der Binnendifferenzierung ergibt sich nicht durch Einschätzungen und Einstufungen durch die Lehrer oder andere Erwachsene, sondern ergibt sich dynamisch aus der Gruppe und der Aufgabenstellung. Meiner Erfahrung nach kann ich auf die Entwicklung der Selbstorganisationskräfte der Klasse vertrauen, wenn ich die Schüler ausreichende Erfahrungen mit dem selbstorganisierten Spielen machen lasse. Deshalb empfehle ich sowohl den Lehrern als auch den Eltern, die Kinder möglichst viel spielen zu lassen.
Die Kinder sind sehr kreativ, eigene Spiele und die dafür sinnvollen Spielregeln zu entwickeln, wenn man sie das tun lässt. Das erfordert allerdings große Zurückhaltung von Seiten der Lehrer und Eltern, um die Kinder nicht durch vorgefertigte Spiele zu beschäftigen, sondern kreativ ihre eigenen Spiele entwickeln zu lassen.
Zum Autor: Michael Harslem war langjähriger Oberstufenlehrer und Geschäftsführer an der Freien Waldorfschule Überlingen. Heute berät er Schulen und leitet Kurse in der Erwachsenen- und Lehrerbildung.
Literatur: I. Jung: Alles andere als Kinderkram. Was Spielen in der Schule für das Lernen bedeutet, Erziehungskunst, Januar 2011 | A. Zimpel: Lasst unsere Kinder spielen! Der Schlüssel zum Erfolg, Göttingen 2013