Vielleicht weil uns die bange Frage treibt: Können wir das überhaupt noch? Sollten nicht professionelle Erzieherinnen und Pädagogen diese Arbeit zum Wohle unserer Kinder möglichst früh übernehmen? Während wir gleichzeitig Geld und Selbstbewusstsein aus der Erwerbstätigkeit gewinnen? Inwieweit die Waldorfpädagogik hier Orientierungshilfe sein kann, darf gefragt werden.
Eine neue Ideologie macht sich breit, die um das Zauberwort »Vereinbarkeit« kreist: Alles ist möglich und alles möglichst gleichzeitig. Zuweilen klappt das gar nicht schlecht! Dann bekommt man viel Lob. Aber es gibt auch die, die gar nicht »Diener zweier Herren« sein wollen, sondern ahnen, dass die Gestaltung eines Zuhauses für Kinder eine einzigartige, phantasieanregende, den ganzen Menschen herausfordende Aufgabe ist, der sie sich gerne stellen würden. Wer macht ihnen Mut?
»Kinder muss man abgeben«
Wir wohnen in der Nähe eines großen Waldorfkindergartens, der vor drei Jahren mit Hilfe öffentlicher Mittel ein wunderschönes neues Gebäude errichtet hat. So weit – so pragmatisch. Während der Bauzeit unterhielt ich mich mit einer Nachbarin, die ihr zweites Kind erwartete und deren Kontakt zur Waldorfschule bislang nur über unsere Kinder bestanden hatte. Sie spielten zusammen mit ihrem kleinen Sohn in unserem Garten und machten die Umgebung unsicher. Die Vorstellung unserer Nachbarin von der Waldorfpädagogik war wohl positiv und so deutete sie auf das entstehende Gebäude und sagte sehnsüchtig. »Dort würde ich mein Kind gern in die Krippe geben, weil man ja jetzt die Kinder abgeben soll.«
Abgeben soll? Mir wurde kühl. Die Frau interpretierte offensichtlich die deutsche Krippenoffensive und das »Recht auf einen Krippenplatz« als Anordnung von oberster Stelle und irgendwie auch als bessere Lösung für ihr Kind. Ob einem Kleinkind das Recht auf einen Krippenplatz ein Anliegen ist, wird gar nicht erst gefragt. Beim Anblick des schönen neuen Gebäudes rechtfertigt sie sich innerlich mit zweierlei: Ich handle als moderne Frau und außerdem unterstützt auch die Waldorfpädagogik diesen Weg.
Ich weiß natürlich, dass erfahrene Waldorferzieherinnen zögern, Säuglinge in Fremdbetreuung aufzunehmen. Der Ausbau der U3-Betreuung wird als Schadensbegrenzung, als Zugeständnis an unsere moderne Gesellschaft gehandelt. Die Aufklärung der Eltern über die Wichtigkeit der Primärbeziehung ist Grundlage aller Erstgespräche – übrigens auch in öffentlichen Krippen. Aber die Frage an die Eltern, ob nicht doch mehr häusliche Betreuung möglich sei, wird – so wurde mir mehrfach von Erzieherinnen berichtet – häufig als Affront, als Unverständnis gegenüber der Lebenssituation der jungen Familie und nicht als Hilfestellung zum Wohle des Kindes verstanden. Und nicht selten kommt dann der verzweifelte Satz: Ich halte es mit dem Kind zu Hause gar nicht aus!
Die heimliche Exklusion
Wer sich heute für den Weg der individuellen Erziehungsarbeit entscheidet, steht oft allein da, vereinsamt, wie ausgeschlossen aus der Gemeinschaft der scheinbar Tatkräftigeren. Das Gefühl, zu Hause etwas Wertschöpfendes zu leisten, verflüchtigt sich, man lebt wie in einer heimlichen Exklusion. Wenn einem da die Decke auf den Kopf fällt, muss man hart daran arbeiten und Inspirationen suchen, um seinen Denk-Raum zu erweitern.
Wir könnten zum Beispiel versuchen, die Bedeutung, die Rudolf Steiner in seinem Aufsatz »Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft« dem Umraum des Kindes beimisst, als Anregung für die ganze Familie zu verstehen. Denn mit dem Umraum ist nicht nur ein wunderbar gestalteter Jahreszeitentisch gemeint. Wobei wir uns über dessen innere Durchdringung auch anregende Gedanken machen könnten, die weit über Dekorationsfragen hinausgehen. Sind es nicht die Eltern selbst, die den wichtigsten Umraum bilden, den ein Kind in den ersten Jahren braucht? Die Frage, wie man selbst beschleunigt oder entschleunigt handelt, welche Sprachgewohnheiten man entwickelt, wie achtsam man im Zwischenmenschlichen handelt und vieles mehr, könnte unser Bewusstsein genauso erweitern, wie so manch teuer bezahltes Retreat im Kloster. Einfach ist das Ganze nicht. Denn kein Lebensentwurf gilt heute für alle. Und eine echte Wahlfreiheit haben wir ohnehin nicht, solange individuelle Erziehungsarbeit finanziell so gut wie nicht gewürdigt wird und der Fürsorge-Tragende – meist sind es ja noch immer die Frauen – am Ende fast ohne Rente da steht. Weshalb unser Staat für solche Fürsorgetätigkeiten immer noch keine Grundsicherung (oder ähnliche Finanzierungsmodelle) anbietet, ist dringend zu fragen. Doch selbst wenn wir finanziell unabhängig wären, fühlten wir uns noch gewappnet für eine solche Erziehungsaufgabe? Ohne Ausbildung, ohne Vorbilder?
Mut zum »Ja«
Da ist der Kinderwunsch. Ganz tief liegt er in uns. In dem Moment, in dem so ein kleines, hilfloses Geschöpf das erste Mal in unseren Armen liegt, ahnen wir, dass in dem schier unermesslichen Gefühl der Liebe, die uns mit diesem Wesen verbindet, all die schwierigen Fragen nach Verantwortung, Abhängigkeit, Demut und Selbstverwirklichung enthalten sind. Manche erschrecken schon hier. Zunächst sind wir aber zu allem bereit. Die physische und psychische Grundlage für eine gelingende Primärbindung zu schaffen, ist den meisten Eltern ein tiefes Bedürfnis. In den ersten Monaten sind wir wie getragen durch einen Anfangsschwung, den wir – so denke ich – dem Impuls unserer Kinder verdanken, zu uns zu kommen. Sobald das Kind etwas älter wird, geht uns dieser Schwung oft verloren und es gibt wenige, die uns Mut dazu machen, unsere Kinder selber zu begleiten. Insbesondere wenn sie »Schwierigkeiten« machen. Lieber in Fremdbetreuung geben – wegen der Sozialkompetenz – und dann zur Therapie, sonst mache ich mich noch schuldig. Auch wenn das Abgeben in vielen Fällen ein guter Weg sein kann, haben wir alle anderen Wege schon durchdacht?
Die erste Frage sollte vielleicht nicht sein, ob wir unsere Kinder selber erziehen können, sondern ob wir es von Herzen wollen. Ob wir immer wieder zu allen Eigenheiten unserer Kinder »Ja« sagen können. Denn wo das der Fall ist, kann in uns eine Kraft wachsen, die uns aus der Zukunft der Kinder entgegenkommt. Und wir müssen das nicht alleine schaffen. Für das, was unsere Kinder von uns brauchen, dürfen wir uns ruhig Hilfe holen. Sich Hilfe holen ist eine ganz andere Bewegung als Abgeben. Es ist die Bewegung aus einem Zentrum heraus, das man selber bildet, nach Außen und wieder zurück. Das kann damit beginnen, Elternschulen zu besuchen, um sich anregen zu lassen, aber auch, um die Einsamkeit zu durchbrechen. Wo die Großfamilie verschwunden ist, brauchen wir ein reales soziales Netzwerk von Gleichgesinnten. Auch darf der Fürsorgende die Selbstfürsorge nicht vergessen. Auszeiten müssen möglich sein. Denn ein Zentrum zu bilden, braucht Kraft, und die Kinder stellen uns in dem intensiv gelebten gemeinsamen Alltag oft genug in Frage: Wer bist du, Mama? Papa? Eine solche Frage als ein Geschenk unserer Kinder aufzufassen, ist nicht immer leicht. Zu all diesem kann, wie angedeutet, die Waldorfpädagogik Denkanstöße geben. Sie kann Mut machen für individuelle Entscheidungen. Mut machen, uns und unsere Kinder als geistige Entwicklungs-Wesen ernst zu nehmen. Und uns daran erinnern, dass jedem Kind ein Engel zur Seite steht, der uns nicht allein lässt, wenn wir das Kind bewusst begleiten wollen. Wer so ermutigt auf seine Kinder zugeht, wird hellhörig: War da nicht eine neue Idee, die das letzte Problem lösen könnte? Versuchen wir es!
Ob sich ein Elternteil für eine solche bewusste Erziehungsarbeit aus dem Erwerbsleben zurückziehen will und für welchen Zeitraum, muss jede Familie selber entscheiden. Das Elternsein scheint mir aus der Kunst zu bestehen, zwei Dinge gleichzeitig zu tun: mit offenen Fragen zu leben – Was brauchst du, Kind? Was brauchen wir alle? – und trotz dieser Offenheit ständig zu entscheiden und zu handeln. In beiden Fällen sollte man jeglichen Perfektionismus über Bord werfen. Mit dem Herzenswunsch, unsere Kinder – so gut wie wir es eben können – selber zu erziehen, öffnen wir einen neuen Denk-Raum, der die geistigen Kräfte hereinlässt, die unsere Kinder mitbringen.
Zur Autorin: Bettina Hellebrand ist Mutter von drei Kindern, Lehrerin, leitete viele Jahre Eltern-Kind-Gruppen und ist Mitherausgeberin des Buches: »Die verkaufte Mutter. 21 Erfahrungsberichte zur Freiheit der modernen Frau«. In diesem Sammelband berichten 21 Frauen darüber, warum sie sich für individuelle Erziehungsarbeit entschieden haben.
Literatur: S. Mänken, B. Hellebrand, G. Abel (Hrsg.): Die verkaufte Mutter. 21 Erfahrungsberichte zur Freiheit der modernen Frau, Frankfurt 2015, 2. Auflage in Vorbereitung