Tarhan Onur studiert in den 1970er Jahren in Wien Theaterwissenschaften und begegnet der Anthroposophie. Zurück in der Türkei, beginnt sie, Texte von Rudolf Steiner zu übersetzen, verfasst Artikel über Waldorfpädagogik und biologisch-dynamische Landwirtschaft. Ihr Wunsch, Waldorfpädagogik in Istanbul, ja in der ganzen Türkei zu verwirklichen, lebt in ihr weiter. 2006 zeichnet sich ab, dass er sich erfüllen könnte. Seit diesem Jahr gibt es einen Schüleraustausch zwischen Hamburger Waldorfschulen und einem Istanbuler deutschsprachigen Gymnasium. Im Zusammenhang mit dieser Partnerschaft stellt im Jahr 2008 die Waldorflehrerin Marie-Luise Sparka an Frau Onur die Frage, ob es ein Interesse an Waldorfpädagogik in der Türkei gebe.
Diese Frage führt dazu, dass sich ein Kreis von Menschen in Istanbul zusammenfindet und den Grundstein für eine waldorfpädagogische Initiative legt. Eine Radiosendung über Waldorfpädagogik auf Türkisch, Englisch und Deutsch führt zu einer lebhaften Resonanz.
Öffentliche Symposien und erste Waldorfabsolventen
Um das Interesse an der Waldorfpädagogik genauer auszuloten, findet im März 2009 in Istanbul ein öffentliches Symposium statt. Zweihundert Menschen aus dem ganzen Land nehmen daran teil. Dozenten aus Hamburg, Istanbul und Stuttgart beteiligen sich.
Zum Abschluss der Veranstaltung liegen Listen aus, in die sich diejenigen Teilnehmer eintragen können, die mehr über die Waldorfpädagogik erfahren möchten, oder die an einer berufsbegleitenden Weiterbildung interessiert sind; 80 Menschen tun dies.
Aus diesen Erfahrungen heraus gründen türkische Aktivisten im Sommer 2009 den Verein »Freunde der Erziehungskunst zur Pflege der Anthroposophie und der Waldorfpädagogik in der Türkei«. In Kooperation mit deutschen Pädagogen und intensiv mitgetragen von Murat Özmen, der die Arbeit der Dozenten in Istanbul von Hamburg aus koordiniert. Es wird ein Curriculum für eine zweijährige, berufsbegleitende Ausbildung erarbeitet; es bildet sich ein Dozentenkollegium, und im Herbst 2009 beginnt in Istanbul der Kurs mit 34 Teilnehmerinnen. In diesem Jahr werden sie ihre Abschlussarbeiten vorlegen.
Elternarbeit muss man lernen
Die Mitglieder des türkischen Vereins »Freunde der Erziehungskunst« sehen ihre Aufgabe auch in einer aktiven Elternarbeit und dies nicht nur in Istanbul, sondern auch in anderen Städten. Es trifft sich, dass eine der Seminardozentinnen, Nurtac Perazzo aus Berlin, Türkin ist und nicht nur einen guten Einblick in die Mentalität türkischer Eltern hat, sondern auch das türkische Bildungssystem gut kennt. Sie veranstaltet in drei Städten alle zwei Monate Elternabende, wobei es auch darum geht, den Eltern bewusst zu machen, dass es auf ihre Initiative ankommt, damit ein Waldorfkindergarten entstehen kann. Dies ist für viele Teilnehmer ein neuer Gesichtspunkt, da man bisher gewohnt ist, dass in erster Linie der Staat für Kindergärten sorgt. Ihr Einsatz zeigt nun Früchte. Auf der asiatischen Seite Istanbuls haben Eltern in Zusammenarbeit mit einer Seminarabsolventin eine Spielgruppe eingerichtet, auf der europäischen Seite gibt es ebenfalls eine entsprechende Spielgruppen-Initiative, ebenso in Bodrum.
Eine emanzipierte Elternschaft kritisiert das Bildungssystem
Es ist kaum möglich, über Kindheit im Allgemeinen zu sprechen, zu unterschiedlich sind in der Türkei die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen, von Jungen und Mädchen. In ländlichen Gebieten herrscht ein traditionelles, patriarchalisch geprägtes Verständnis vor, mit eindeutigen Rollenzuweisungen und entsprechenden Unterdrückungsmechanismen. In den rasant wachsenden Städten hingegen wird eine gute Schul- und Berufsausbildung für Jungen und für Mädchen wichtig. Hier investieren Eltern viel Zeit und Geld, um ihren Kindern gute Berufschancen zu ermöglichen. Hinzu kommt, dass aus der Türkei nicht nur Menschen auswandern, sondern viele wieder zurückkehren.
Qualifizierte türkische Fachkräfte kommen nach Istanbul zurück und finden hier die entsprechenden Arbeitsmöglichkeiten. In Teilen dieser emanzipierten Elternschaft blickt man kritisch auf das bestehende Erziehungs- und Bildungssystem. Die »Grundübel« lauten: Eine Verschulungstendenz der gesamten Kindergartenzeit sowie eine Vorverlegung des Einschulungsalters. Insgesamt bedeutet das vereinseitigende, intellektualistische Erziehung und Bildung, gepaart mit einer »Dynamisierung der Kindheit- und Jugendzeit« im Sinne von »je früher und schneller, desto besser!«
Zarte Pflänzchen
Die Misere der Kinder ist für mehr und mehr Eltern in der Türkei das Grundmotiv, nach Alternativen zu suchen und bei diesen Bemühungen entdecken sie die Waldorfpädagogik. Das Engagement der jetzt ausgebildeten Waldorferzieherinnen in Kooperation mit den Eltern zeigt, dass die noch zarten Waldorfpflanzen einen guten Boden gefunden haben. So besteht berechtigte Hoffnung, dass Waldorfpädagogik in der Türkei wachsen und gedeihen kann.
Hinweis: Die von der Vereinigung der Waldorfkindergärten herausgegebene Schriftenreihe »Recht auf Kindheit – Ein Menschenrecht« liegt zum Teil in türkischer Übersetzung vor.
Bestellungen unter: www.waldorfkindergarten.de
Zum Autor: Peter Lang ist Dozent für Waldorfpädagogik und Vorstandsmitglied der Vereinigung der Waldorf-Kindertageseinrichtungen Baden-Württemberg e.V.