Geheime Intelligenz

Henning Köhler

Minderbegabte Kinder, durchschnittlich begabte Kinder, hochbegabte Kinder – wie kommt man dazu, solche Kategorisierungen vorzunehmen? Als Bemessungsgrundlage dient der Intelligenz-Quotient (IQ), ein Götze unserer Zeit. Er wurde 1912 von William Stern erfunden und legte eine atemberaubende Karriere hin. Je höher der IQ-Wert, so glaubt man, desto größer die Intelligenz des Probanden. IQ-Optimierung gilt als Bildungsziel schlechthin. (Daher das ganze PISA-Theater.) Fast alle Kinder, die in unserem Institut vorgestellt werden, haben einen IQ-Test hinter sich. Immer wieder kommt es zu groben Fehleinschätzungen. (Kinder können oder wollen unter Labor- bzw. Prüfungsbedingungen nicht unbedingt zeigen, wozu sie in der Lage sind.) Aber selbst wenn die Ergebnisse für den begrenzten Bereich, der hier gemessen wird, zutreffen – sie bilden keineswegs das Begabungsniveau des Kindes ab!

Auch Wissenschaftler ohne spirituellen Hintergrund bezweifeln, ob es je möglich sein wird, eine so schwer fassbare, kontextabhängige, facettenreiche Eigenschaft wie Intelligenz, von der ohnehin (bei allen Menschen) nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs in Erscheinung tritt, empirisch zu bestimmen. Wer mit dem Hawik (seit 2011 WISC) arbeitet, sollte sich zumindest klar darüber sein, dass er ein Paradigma massiver Komplexitätsreduktion bedient. Und, nicht zu vergessen, dass jedem Intelligenztest notwendig eine Theorie der Intelligenz zugrunde liegt. Vielleicht – sehr wahrscheinlich sogar – wird man eines Tages sagen, die aus dem 20. in das 21. Jahrhundert hinübergeschleppte Theorie menschlicher Intelligenz sei bemerkenswert dumm gewesen. Ein 2012 erschienenes Buch von Gerald Hüther und Uli Hauser trägt den Titel: »Jedes Kind ist hochbegabt«.

Hüther begründet das mit »Vernetzungsoptionen im Gehirn, von denen nur ein geringer Bruchteil realisiert wird«. Ich spreche lieber vom unergründlichen inneren Reichtum des Kindes; von der verborgenen Schatzkammer, die kein Hirnscanner je ausleuchten wird. Grundsätzlich muss mit dem »unsichtbaren Menschen« (Rudolf Steiner) gerechnet werden. Vielleicht will sich der Geist Wege bahnen, die durch IQ-Tests  gar nicht zu erfassen sind. Vielleicht enthält er sich dem äußeren Leben, verharrt gleichsam an der Schwelle, und hat Gründe dafür. Vielleicht hindern ihn tragische (was aber nicht heißen muss: sinnlose) Umstände, sich in den Erdenverhältnissen zu offenbaren. Wie, wenn die Geistvollsten unter uns Idioten wären (von griech. idios = eigen, eigentümlich, auch: zurückgezogen); Menschen, deren Genialität ihr Geheimnis bleibt? Sagen wir nie, ein Kind sei minderbegabt! Das ist die erste Grundforderung anthroposophischer Pädagogik und Heilpädagogik.

Intelligentia (lat.) heißt geistige Befähigung. Drei Ebenen (samt Übergängen) sind zu unterscheiden:  1) unerweckte Fähigkeiten; 2) erweckte, aber noch verhüllte Fähigkeiten; 3) erweckte, enthüllte Fähigkeiten. Somit ist auch die päda­gogische Aufgabe eine dreifache: 1) behutsame, weckende Anstöße geben, aber schlafen lassen, was weiterschlafen will; 2) dem Erweckten Gelegenheiten schaffen, sich zu enthüllen – zeig, was in dir steckt! –, aber akzeptieren, wenn die Zeit noch nicht reif ist; 3) das, was zu Tage tritt, begrüßen, feiern, pflegen, doch niemals Macht darüber ausüben. Dann wird jedes Kind mit unserer Hilfe seiner Spur folgen.