»Ich heiße Nein«

Von Henning Köhler, Februar 2014

Marc Baumann erzählt im Süddeutsche Zeitung Magazin (31/13) von einem eineinhalbjährigen Jungen, der, nach seinem Namen gefragt, antwortete: »Nein«. Das Kind glaubte tatsächlich, es heiße Nein. Warum? Vermutlich weil seine Eltern kein anderes Wort so häufig zu ihm sagten. Baumann kam ins Grübeln und ließ an einem ganz normalen Tag, den er mit seinem vierjährigen Töchterchen verbrachte, das Tonband mitlaufen. Abends beim Abhören fuhr ihm der Schrecken in die Glieder. »Dauernd sage ich: Nein! Hör auf! Stopp! Wie fremd meine eigene Stimme klingt: nach Kasernenhof und trauriger Kindheit. Dreißig Mal nein und fast fünfzig Verbote! Als Erstes fällt mir auf, wie viele Neins unnötig sind.« Beispiele: »Stopp! Nicht mit Marmelade-Fingern aufs Sofa!« – »Nicht die Hände am Pullover abtrocknen!« – »Bleib sitzen, wir essen noch.« – »Schaukel nicht mit dem Stuhl!« – »Hör auf, Quatsch zu machen, wenn ich deine Zähne putze.« Und so fort. Dabei war es ein Tag, betont Baumann, »an dem ich weder schlechte Laune hatte noch mein Kind besonders wild gewesen wäre.«

Er beobachtet, dass auch andere Eltern ständig schimpfen, ermahnen, maßregeln und alles besser wissen. »Man muss nur mal drauf achten.«

Meist gibt es andere Lösungen, als »Nein!« oder »Stopp« zu bellen. Wie wär’s, die Marmeladefinger seelenruhig mit einem bereitliegenden feuchten Tuch abzuwischen? Aus dem Zähneputzen kann man ein Spiel machen: Das Kind ist Dornröschen, Papa der Prinz. Er will es wachküssen, sinkt jedoch ohnmächtig zu Boden, weil ihm atemberaubender Mundgeruch entgegenschlägt. Stuhlschaukeln? Oft genügt es, sacht den Rücken des Kindes zu streicheln. Außerdem haben wir das alle gemacht, und trotzdem ist was aus uns geworden. Hände am Pullover abtrocknen? Geschenkt! Aufspringen vom Tisch? Kinder sind Kinder. Im Übrigen kann eine spontan erfundene kleine Geschichte Wunder wirken. Mehr Gelassenheit, Leute! Mehr Humor! Mehr Phantasie!

Ich bin Baumann dankbar für seinen sympathisch selbstkritischen Weckruf. Es heißt ja immer, die heutigen Eltern versäumten, den Kindern Grenzen zu setzen. Das stimmt so nicht. Tatsächlich ist gedankenloses Herumnörgeln an jeder Kleinigkeit ein verbreiteter erzieherischer Umgangston. Weitaus verbreiteter als noch vor 20, 30 Jahren. Kinder, die immerfort mit größtenteils überflüssigen Neins zugetextet werden, sind in Gefahr, der pädagogischen Führung zu entgleiten. Manche schalten einfach auf Durchzug.

Kommt dann ein berechtigtes, notwendiges Verbot, erreicht es sie nicht. Andere reagieren paradox. Ermahnungen wirken bei ihnen wie positive Verstärker: anstachelnd. Jetzt wird’s richtig ungemütlich. Verneinung  klingt in den Ohren dieser Kinder wie Bejahung. Weil sie das Gefühl haben, Nein zu heißen.

Übrigens: Zum Thema gibt es ein erfrischendes Buch: Toni Feldner, Genug erzogen!: 25 Gründe, warum Eltern loslassen sollten

Kommentare

Kristin , 10.02.14 14:02

Naivität läßt grüßen. Ich bin genervt von derlei bescheuert-emotionalen, Zustimmung heischenden Reden, dass ich es kaum noch aushalten kann. Sorry, muss aufhören zu schreiben, Kind steht mit aufgeklapptem Regenschirm auf der Dachterrasse und ruft "Mami, ich kann fliegen" - auf die Gefahr hin, ein Arsch zu sein: Ich werde es wohl verbieten müssen. Jetzt sofort.

iska gschaider, Wien, 10.02.14 23:02

mit kleinen veränderungen in der kommunikation - und einer guter portion gelassenheit und liebe - große auswirkungen begründen:
elterntraining macht eltern froh - und ihren nachwuchs sowieso!!!

Katrin , 11.02.14 13:02

Vielen Dank für diesen Eintrag. Auch ich habe ähnliche Geschichte schon gehört (mit dem Nein-namen). Wir versuchen unserem Zwerg auch weitestgehend eine Ja-Umgebung zu gestalten. Ich verwende ein Nein wirklich nur bei Dingen, die gefährlich werden könnten, wie z.B. Anfassen an Steckdosen. Ich möchte, dass mein Zwerg auf mein Nein entsprechend reagiert und ich denke, wenn ich das nein zu oft anwende wirds einfach routine und nicht mehr so beachtet.

Henning Köhler, 11.02.14 13:02

Zustimmung heischt man heute eher mit Grenzen-Disziplin-Parolen. Die Szene mit dem Regenschirm auf der Dachterrasse ist so eine, die keine andere Wahl lässt, als zu verbieten. Ist das Kind gewohnt, dass sowie andauernd nein geschrien wird,springt es vielleicht. Erst lesen, dann kritisieren.

Holder , 12.02.14 16:02

Liebe Kristin,
vielleicht hast du das Gefühl ohne deine Strenge läuft alles aus dem Ruder und erst wenn du Grenzen aufstellst und diese auch einforderst entspannt sich euer Umgang. Vielleicht hast du gerade nicht die Nerven liebevoll zu sein oder du hast ein Kind mit "besonderen Bedürfnissen", dieser Artikel ist ok, nur hilft er dir gerade gar nicht weiter. Jeder von uns findet seinen Weg mit seinem Kind, der zu euch und eurer Familie passt, da gibt es keine allgemeingültigen Regeln. So wie auch jeder Mensch etwas anders tickt. Werte Mitmenschen, seid doch bitte etwas freundlicher zueinander! Ich denke wenn es einem selber gut geht, ist man auch in der Lage entspannter zu sein. Ich verstehe den Artikel jedenfalls so: Sag nicht tu diese nicht/tu jenes nicht, sondern sag lieber was es tun soll, das klappt z.B. sehr gut (bei uns zumindest).

carmen breninek, 12.02.14 20:02

was ist falsch kristin,es ist klar das wir bei gefahr eingreifen aber wrum darf man nicht in die pfütze springen ..haben wir das nicht gemacht .welches kind erinnert sich nicht daran das auch Mutti mitmacht.das nein kennt es zu genüge...wir dürfen unser innerstes kind nie vergessen..wie langweilig wäre es ohne ..Letzens habe ich nen ball für mein kind gekauft u.bin durchs Einkaufscentrum geballert..das die infodame meine ..der ball bleibt jetzt aber in der hand und ich :bitte noch einmal !wie lang hab ich es nicht mehr gehört...MAN HAT NUR EIN LEBEN...

Elisa Just, 14.02.14 14:02

Ach herrlich, liebe Carmen!!! :-D
Nur so bereut man am Ende nichts. Vielen Dank, dass du das geteilt hast. Macht mich ganz froh.

Ich bin übrigens auch so eine. Mein Kind ist jetzt bald ein Jahr. Und ich habe es schon bemerkt, als ich gesehen habe, wie oft sie den Kopf schüttelt.
Der Artikel hat mich ein bisschen wach gerüttelt und ich werde jetzt mehr darauf achten. VIELEN DANK!

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