Wie das? Warum denn nicht demokratisch? An vielen Schulen gibt es engagierte Bemühungen, damit es endlich demokratischer wird. Wie denn sonst? – Und wozu überhaupt dieser ganze Aufwand einer Selbstverwaltung? Jede Woche mehrere Konferenzen mit zehn, dreißig oder achtzig Kollegen, um manchmal lapidare Alltäglichkeiten zu besprechen. Welche Firma könnte sich so etwas leisten? Außerdem ist es eine totale Überforderung. Sie hat schon manche Schule in ernsthafte Krisen gestürzt!
Endlich den Rücken frei
Selbstverwaltung ist doch eine typische Ideologie von Weltverbesserern des vergangenen Jahrhunderts. Sollten wir uns von derart verblassten Idealen nicht endlich verabschieden? Mit einem Direktor wäre alles viel produktiver, im Interesse einer schlanken Verwaltung. Und die Lehrer hätten endlich den Rücken frei für ihren Unterricht! – Das klingt verlockend. Aber ohne Direktor und gleichzeitig ohne Demokratie – wie soll das gehen?
Die Bedingungen für Waldorfpädagogik – als Begegnung unmittelbar von Mensch zu Mensch – hat Rudolf Steiner im Schlusswort des ersten Lehrerkurses folgendermaßen auf den Punkt gebracht:
»Durchdringe dich mit Phantasiefähigkeit,
habe den Mut zur Wahrheit,
schärfe dein Gefühl für seelische Verantwortlichkeit.«
Mit diesen »Nerven der Pädagogik« (Steiner) sind Eigenschaften beschrieben, die weder durch direktoriale Weisung erlangt, noch in einer Gruppe demokratisch gefunden werden können. Phantasie entsteht nur als innere Kraft im Einzelnen. »Die zur Wahrheit wandern, wandern allein, keiner kann dem andern Wegbruder sein…« (Christian Morgenstern). Auch Verantwortung kann jeweils nur konkret von individuellen Persönlichkeiten übernommen werden. Sonst verkommt sie zur Phrase, und in Wirklichkeit herrscht Verantwortungslosigkeit – manchmal verschleiert durch die verdeckte Macht grauer Eminenzen.
Von der Außen- zur Innensteuerung
Wo Unterricht und Erziehung wirklich menschlich wird, betreten Lehrer als mündige und autonome Persönlichkeit den Klassenraum. Sie übernehmen volle Verantwortung für alles, was sie tun. Jede Form einer übergeordneten Leitung würde das behindern. Deshalb verwaltet jeder selbst. Deshalb brauchen wir Selbstverwaltung. Ein Beamter, der ausführt, was andere (der Direktor, das Ministerium) angewiesen haben, hat an einer solchen Schule nichts zu suchen. Auch kein Waldorf-Beamter, der meint, sich hinter Beschlüssen einer Konferenz oder eines vermeintlichen Waldorf-Lehrplans verstecken zu können. »Jeder muss selbst voll verantwortlich sein.« Diese Forderung stellte Steiner ausdrücklich an den Anfang, bevor er am folgenden Tag die Ausbildung der Waldorflehrer begann.
Damit befinden wir uns an der Schwelle eines Paradigmenwechsels. Es ist der Wechsel von der Außensteuerung zur Innensteuerung sozialen Verhaltens. Michael Opielka, Professor für Sozialpädagogik in Jena, sieht darin »die größte Veränderung der Menschheit im Verlaufe des 20. Jahrhunderts.« Sie kann in ihrer Bedeutung mit der aus der Evolution bekannten Verlagerung des Außenskelettes zum Innenskelett verglichen werden.
Rückfall in alte Verhaltensmuster
Autonomie des Einzelnen? Ist das nicht gleichbedeutend mit Anarchie und Chaos? Öffnen wir damit nicht Tor und Tür für Egoismen und Machtstreben, für heimliche Hierarchien? An einer Waldorfschule sollte doch gerade die kollegiale Einigkeit der Lehrer wohltuend erlebbar sein. Wie aber werden Einzelne zu einer Gemeinschaft?
Gar nicht, zunächst. Und das ist ein Problem unserer Gegenwart. Heute haben die meisten von uns das berechtigte (und heilsame) Bedürfnis, zu sich selbst zu finden. Auf der Kehrseite der Medaille heißt das, sich unterscheiden zu lernen von anderen. Das muss zunächst antisozial wirken (nicht im Sinne einer moralischen Bewertung, sondern als Beschreibung wirkender Kräfte). Wer in dieser Situation dennoch unvermittelt Gruppe sein will, fällt leicht zurück in alte Verhaltensmuster. Er taucht unter in ein Wir-Gefühl vergangener Zeiten: Unser Club. Unsere Familie. Unser Volk. Unsere Partei. Unsere Waldorfschule.
Wo Menschen heute aus einem Wir-Gefühl heraus handeln, entsteht Abgrenzung, bald auch Feindschaft und Gewalt – nicht nur im Fußballstadion oder zwischen Völkern. Der Schritt von der Seilschaft und Blutsverwandtschaft hin zur mündigen Begegnung sollte nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts unumkehrbar sein. Im behaglichen Wir-Gefühl jedoch können sich Kollegen nur zu Kollektiven verbünden. Da herrscht Einheit statt Vielfalt. Von außen erscheinen sie dann manchmal fast wie eine Mauer.
Kollektive – das habe ich in der DDR erlebt – sind Kennzeichen entmündigender Machtstrukturen. Niemand soll sich wirklich entfalten können. In Kollektiven herrscht die organisierte Verantwortungslosigkeit. Diese Tatsache verbergen wir gern hinter einer harmlosen Fassade. Wir nennen sie Demokratie, und meinen damit, dass jeder (fast) überall mitreden kann. Viele entscheiden mit, auch jene, die weder die Initiative noch die Folgen für die konkrete Entscheidung zu tragen haben. Solche vermeintliche Demokratie wirkt wie ein Rasenmäher: Jeder hervortretende Grashalm, jedes farbige Blümchen, wird dem einheitlichen Grün geopfert. Im besten Falle entsteht Mittelmaß. Mehr ist in solchen Strukturen nicht möglich.
Gemeinschaft entsteht nicht in der Konferenz
Der Gegensatz zwischen dem modernen und notwendigen Anspruch des Einzelnen samt seiner Gefahren und den Verführungen einer Gruppe könnte größer nicht sein. Auf der einen Seite drohen Anarchie und Machtstreben, auf der anderen Kollektivismus und Mittelmaß. Nur dazwischen könnte sich das Neue ereignen: Wo Einzelne zur Gemeinschaft werden, wo Gemeinschaft aus Einzelnen erblüht. Wir nennen es Kollegium. Doch das entsteht nicht durch das Zusammensitzen in Konferenzen. Es lässt sich überhaupt nicht erzeugen. Auch soziale Techniken und ausgeklügelte Strukturen schaffen keine Gemeinschaft. Sie können lediglich im fortschreitenden Prozess der Individualisierung antisoziale Nebenwirkungen abfedern, soziale Missstände eindämmen. Denn eine Mitarbeiterschaft, die ihre Identität weiterhin aus äußeren Kennzeichen herleitet – alle unterrichten am selben Ort, nach dem gleichen Konzept –, kann sich unbemerkt noch im Dämmerschlaf des Kollektivismus befinden – all den Gefahren ausgesetzt, die jedem Wir-Gefühl anhaften.
Gemeinschaft im christlichen Sinne – und als solche versteht sich das Kollegium einer Waldorfschule – ist ein rein geistiges Phänomen. Sie ergibt sich nicht durch Zusammensein in Raum und Zeit, sondern ereignet sich spirituell. Überall. Jederzeit. Sie wird als Geschenk empfangen, wie es im Pfingstereignis urbildlich geschehen ist: Unterschiedlichste Menschen verstehen sich plötzlich, weil in ihnen ein lebendiges Feuer entzündet wurde. Wo Herzens-Intentionen das Lebendige suchen, werden Menschen zusammengeführt. Gedankliche Vorstellungen – zum Beispiel ein auf Papier gebanntes Leitbild – helfen da wenig.
Nicht die Konferenz kann Gemeinschaft hervorbringen. Sondern, wenn sich Gemeinschaft spirituell bildet, wird auch fruchtbare Konferenzarbeit möglich. Wer es erlebt hat, wird darüber keinen Zweifel haben. Unbehagen und Krisen jedoch, die manche Konferenz so mühsam machen, können uns daran erinnern, warum Steiner betont hat, dass das Verbindende einer zentralen Leitung nicht durch Konferenzen ersetzt werden kann. Wo viele mitreden, wird die Suppe nur versalzen.
Ein Geschenk des Himmels
Zu einer Einheit wird eine solche Schule dann, wenn sich jeder Kollege auf einen inneren Weg begibt. In der existenziellen Beschäftigung mit dem Ursprung und Ziel des Lebens öffnen sich dem Suchenden Dimensionen unserer Wirklichkeit, die wir gewöhnlich übersehen. Traditionell bezeichnen wir sie als Engel.
Hier betreten wir unsichtbaren Raum, nicht weniger real als Tisch und Stuhl. Aber weil dieser Raum geistig ist, kennt er keine Grenzen. Hier – und nur hier – kann die Verbindung von Mensch zu Mensch sich bilden. Zeitgemäße Gemeinschaft im christlichen Sinne ist ein Geschenk des Himmels. Und wo Einzelne zu sich finden, finden sie auch zu anderen. Beides hängt zusammen. Die Menschheit bildet sich nicht durch anonyme Gruppen, sondern im konkreten Einzelnen.
Bevor die erste Schule ohne Direktor gegründet wurde, versammelte deshalb Steiner seine künftigen Waldorflehrer noch einmal: Er ließ sich in die Hand versprechen, dass jeder sich bei seiner täglichen Meditation am Morgen und am Abend an Engelwesen wendet. Dabei gab er konkrete Empfehlungen, wie man das als moderner Zeitgenosse tun kann. Denn hier kann jeder empfangen, was er benötigt für seine Arbeit – im Sinne der Phantasiefähigkeit, der Wahrheit und der Verantwortlichkeit: Kraft, Mut und das Licht der Weisheit. Und später fügte er hinzu: »Ja, das sind die Imponderabilien, auf die es mir ankommt, auf die alles, alles ankommt.« Dieses Wirken ist real erfahrbar. In der Sphäre der Engel geschieht das, was Menschen vereinen kann. Eine Teilnehmerin hatte damals notiert: »Sie verbinden Eure Seelen.« Hier entsteht Gemeinschaft. Heute.
Literatur: Rudolf Steiner: Konferenzen, Zweiter Band. Konferenz vom 23.1.1923 (GA 300b); ders.: Allgemeine Menschenkunde, 1. und 14. Vortrag. (GA 293) | Michael Opielka: »Postfamiliäre Gemeinschaft«, in: Das Goetheanum 25 / 2011
Zum Autor: Friedhelm Garbe war Orgelbauer und Theologe. Seit 1992 Klassenlehrer in Jena und in der Lehrerbildung tätig. www.waldorf-fernstudium.de