Sind an Waldorfschulen nicht viele der normalerweise auftretenden Machtkonflikte gar nicht vorhanden? Das meinen manche »Idealisten«, die in der Selbstverwaltung das Ideal eines herrschaftsfreien Raumes mit gleicher Verantwortung aller Beteiligten verwirklicht sehen. In der Realität ist jedoch das Gegenteil der Fall. Gerade in ideellen Gemeinschaften, die hohe Ziele, Ansprüche und Erwartungen haben, kommt es zu heftigen Konflikten und vielfältigen Machtkämpfen. Der Druck steigt, wenn Eltern, die durch ihre Kinder persönlich betroffen und häufig emotional stark involviert sind, als Träger der Schule ein immer größeres Mitbestimmungsrecht fordern.
Waldorfschulen haben ein größeres Konfliktpotenzial
Wir können davon ausgehen, dass gerade an Waldorfschulen das Potenzial für Konflikte größer ist als in anderen Schulen oder Organisationen. Dazu tragen die speziellen Bedingungen dieser Schulen in besonderem Maße bei. Sie haben auf der Grundlage der Anthroposophie eine eigene Pädagogik entwickelt, was bei den dazu positiv eingestellten Eltern hohe Erwartungen weckt. Andererseits gibt es in der Öffentlichkeit wie in eigenen Reihen auch Misstrauen und Kritik gegenüber dieser Pädagogik, was alle Beteiligten einem verstärkten Rechtfertigungszwang aussetzt. Schnell fühlen sich die Betroffenen angegriffen und kritisiert und reagieren empfindlicher. Durch ihr Engagement sind viele auch gefühlsmäßig stärker beteiligt – Emotionen sind im Spiel, die den Nährboden für Konflikte bilden.
Schüler, Eltern und Lehrer
Kinder müssen in ihrer Entwicklung verschiedene Krisen durchmachen. Durch den genau auf das Alter abgestimmten Unterrichtsstoff, das weitgehend angstfreie Lernen und die Zusammengehörigkeit in der Klassengemeinschaft können und dürfen die Kinder ihre Entwicklungskrisen stärker leben und austragen als an anderen Schulen. Dadurch werden Konflikte und Widerstände von den Kindern persönlich stärker erlebt und auch nach Hause getragen. Immer mehr Eltern halten diese Krisen ihrer Kinder jedoch nicht mehr für normal und entwicklungsbedingt, sondern empfinden sie als Bedrohung für ihr Kind und für sich selbst. Sie haben Angst vor Fehlentwicklungen und reagieren dementsprechend sensibel.
Waldorf-Eltern haben hohe Erwartungen an die Schule. Deswegen agieren sie bei Problemen ihrer Kinder häufig gegen die Lehrer, gegen andere Kinder und Eltern und auch gegen die Schule.
Die Pädagogen erledigen in der Regel mit hohem Engagement und großem Einsatz ihre pädagogischen und administrativen Aufgaben. Sie haben ein starkes Interesse an der Entwicklung ihrer Schüler und müssen die Unterrichtsinhalte in viel größerem Maß durchdringen. Sie sind stärker auf die Wirkung ihrer Persönlichkeit und die altersgemäße Aufbereitung des Stoffes angewiesen, weil ihnen die sonst üblichen Sanktionsinstrumente fehlen. Sie haben es zudem mit einem großen Begabungsspektrum zu tun und zusätzlich mit einer Reihe von Kindern, die eigentlich sonderpädagogische Förderung benötigen. Dazu kommt eine Klassenstärke von meist um die 35 Schüler.
Die Lehrerinnen und Lehrer haben in der Regel hohe Erwartungen an sich selbst. Damit bedienen sie auch das Muster der Eltern, die ihre Erwartungen auf die Lehrer projizieren. Dazu kommen noch die vielfältigen Aufgaben in der Selbstverwaltung der Schule, die meist ohne Professionalisierung erledigt werden müssen. Häufig geraten die Lehrer damit in eine Überlastungssituation, die sie dann teilweise nicht mehr adäquat auf Probleme reagieren lässt.
Schule als soziales Lernfeld für alle Beteiligten
Diese Gemengelage bietet ein breites Feld für das Entstehen von gegenseitigen Zuschreibungen, enttäuschten Erwartungen, Missverständnissen und Spannungen. Leider gehört der Umgang mit diesem großen sozialen Arbeitsspektrum selten zum bewusst gegriffenen Lernfeld einer Waldorfschule. Es geschieht noch relativ wenig zur Prophylaxe auf diesem Gebiet. Die daraus entstehenden Konflikte können aber helfen, diese Lernfelder in der Gemeinschaft zu aktivieren, sie bewusst zu machen und zu beackern.
Jeder Konflikt beinhaltet ein hohes Potenzial an Kräften, die bestehende Verhältnisse, Bindungen, Formen, Gewohnheiten und Strukturen aufbrechen und zerstören können. Hierin liegt die entwicklungsfördernde Aufgabe des Konfliktes. Die Dynamik eines Konflikts lebt davon, dass sich Aktion und Reaktion gegenseitig bedingen und immer weiter aufschaukeln. Damit einher geht eine immer stärkere Emotionalisierung aller Beteiligten mit einer Verhärtung der Positionen, Übersteigerung der Argumente, Verfestigung von Feindbildern, Verteufelung der anderen, emotionalen Übergriffen, Überreaktionen auf allen Seiten. Um mit Friedrich Glasl zu sprechen – es entsteht eine »dämonisierte Zone«, die alle Beteiligten in ihren Bann zieht und darin festhält. Ist in einer Gruppe erst einmal eine solche Situation eingetreten, kann jedes beliebige Thema dazu dienen, den vorhandenen Konflikt weiter auszuleben.
Krise als Hilfe im Konflikt
Wie kommt man aus einer solchen Situation wieder heraus? Eine gute Hilfe zur Bearbeitung heißer Konflikte gibt eine Krise. Sie eröffnet meist erst die Möglichkeit zur Bearbeitung des Konfliktes.
Krisen sind Momente, in denen Unsicherheit entsteht, in denen sich die beteiligten Menschen entscheiden müssen, ob und wie sie weitermachen wollen. In jedem Konflikt gibt es Situationen, an denen so etwas wie ein Innehalten, ein momentaner Stillstand der Dynamik auftritt. Das ist meist schwer auszuhalten und provoziert deshalb gleich die nächste Aktion.
Ob ein Ausstieg aus dem Konflikt möglich ist, hängt auch davon ab, wie groß der Leidensdruck für die einzelnen Beteiligten ist. Zu Beginn eines Konfliktes fällt die Umkehr noch leichter. Das Interesse an einer Schadensbegrenzung ist in diesem Stadium noch erheblich größer als auf späteren Eskalationsstufen. Eine probate Lösung ist auch hier schon – wie auf allen späteren Eskalationsstufen – die Vereinbarung eines Waffenstillstandes und das Angebot einer einseitigen »Abrüstung«. Manchmal gelingt den beiden Konfliktparteien noch, dies untereinander zu vereinbaren, meist ist jedoch die Hilfe eines Dritten sinnvoll und notwendig.
Je fortgeschrittener jedoch ein Konflikt ist, desto größer sind die Gräben, die Verletzungen, die durch den Konflikt selbst entstanden sind – die in der Projektion natürlich jeweils der Gegenpartei zugeschrieben werden. Wenn hier eine Partei mit externer Hilfe den Konflikt beenden und lösen will, kann auch dies zum Gegenstand des Konfliktes werden: der Konflikt über die Konfliktlösung. Meist entzündet er sich daran, ob überhaupt eine externe Hilfe nötig ist oder wer als neutrale Instanz für die Konfliktvermittlung akzeptiert werden kann.
Externe Konflikthelfer
Hier erweisen sich oft die nicht direkt am Konflikt Beteiligten, aber davon Betroffenen als hilfreich. Da der Konflikt die Existenz der Organisation gefährdet, kommen sie durch ihn in einen solchen Leidensdruck, dass sie sich aktiv einschalten und die Konfliktparteien zwingen, eine externe Vermittlung zu akzeptieren. Bei Konflikten in einem Lehrerkollegium übernimmt manchmal der Vorstand diese Rolle. Bei Konflikten zwischen Vorstand und Kollegium kommen solche Forderungen aus der Elternschaft. Bei Streitigkeiten zwischen Eltern schalten sich Lehrer ein.
Ist ein von allen Parteien akzeptierter Konfliktbearbeiter gewonnen, ist der erste wichtige Schritt zur Eindämmung des Konfliktes getan.
In der Regel wird der externe Konfliktbegleiter erst einmal mit jeder Partei getrennt sprechen, um einen Überblick über die Themen und Dimensionen des Konfliktes zu bekommen. In diesen Gesprächen findet schon die erste Konfliktbearbeitung statt, da sich jede Partei in aller Ruhe aussprechen kann und alles auf den Tisch kommt, was sich aufgestaut hat. Diese Erstgespräche verändern in der Regel schon das gesamte Konfliktgeschehen und das Konfliktklima.
Bearbeitung von Konflikten
In der Regel beginnt man nach der Konfliktdiagnose, gemeinsam mit allen Beteiligten das Konfliktfeld zu sortieren: Wer sind die zentralen Figuren, die Hauptbeteiligten, wer steht mehr am Rande oder ist gar nicht beteiligt und nur betroffen? Dann machen sich alle Beteiligten die Eskalationsmechanismen bewusst, die einen Konflikt vorantreiben, damit die dort wirksamen Kräfte erkannt werden können. Dieses Bewusstmachen der wirkenden Kräfte dient dazu, dem Konflikt den emotionalen Nährboden im Umfeld zu entziehen und die »dämonisierte« Zone schrumpfen zu lassen. Die Waffenstillstandsvereinbarungen und deren Kontrolle ermöglichen eine allmähliche Erneuerung der Kommunikation und schaffen im Umfeld der aktiv Beteiligten allmählich wieder Vertrauen in die gegenseitigen Beziehungen.
Der eigentliche Konflikt wird dann mit den zentralen Figuren, die miteinander in Konflikt liegen, bearbeitet. Dies ist ein mühsamer und für alle Beteiligten schmerzhafter Prozess, der viel Geduld und Fingerspitzengefühl erfordert, aber auch mit einer gewissen Strenge und Nachhaltigkeit geführt werden muss. Zudem braucht er viel Zeit. Ohne professionelle Ausbildung sind die Erfolgsaussichten bei großen Konflikten schlecht. Wie die Lösungen aussehen, hängt immer von den Beteiligten ab und der Rolle, die dieser Konflikt in der jeweiligen persönlichen Biographie spielt. Meist ist es ein weiter Weg, bis eingesehen werden kann, dass alle Verletzungen und Beschädigungen notwendig waren, damit es zu einer solchen Bearbeitung biographischer Hindernisse überhaupt kommt.
Der Konfliktbegleiter kommt auch immer wieder in die Lage, Grenzen setzen zu müssen, um den Rückweg in den Konflikt zu versperren. Denn oft sind die Konflikte schon jahrelange Gewohnheit geworden und gehören zum Lebensmuster der beteiligten Menschen. Dies einzusehen und dann auch noch diese Lebensmuster zu verändern, ist harte Arbeit.
Falls eine Konfliktbearbeitung gelingt, eröffnen sich meist neue, oft sogar entscheidende Lebensperspektiven für den einzelnen Menschen wie auch neue Entwicklungsperspektiven für die Organisation. Jeder Konflikt, der durch die Krise konstruktiv bearbeitet wird, birgt neue Entwicklungschancen für den einzelnen Menschen, die Gruppe, die ganze Organisation.
Zum Autor: Michael Harslem, von 1978-1998 Oberstufenlehrer für Geschichte, Sozialkunde, Architektur sowie geschäftsführender Vorstand in Überlingen. Seit 1998 Entwicklungsbegleiter von Menschen und Organisationen in den Bereichen Persönlichkeitsentwicklung, Entwicklung des sozialen Organismus, Lernen lernen und Praxisforschung.
Literatur:
Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, Stuttgart 2011; ders.: Selbsthilfe in Konflikten, Stuttgart 2010; ders.: Konflikt, Krise, Katharsis, Stuttgart 2007; ders.: Konfliktfähigkeit statt Streitlust, Dornach 2010