Liebe Leserin, lieber Leser!
Der Mann könnte Waldorflehrer sein: Ausgerechnet der Präsident eines Lehrerverbandes hält Noten für ungerecht und subjektiv. Klaus Wenzel vom Bayerischen Lehrerverband bestreitet, dass Noten irgend etwas über den Schulerfolg und Leistungsstand eines Schülers aussagen. Zu stark hänge eine Note vom Ort der Schule und von der subjektiven Einstellung des Lehrers ab. Zudem verstärkten Noten nur die guten Schüler, die schlechteren würden demotiviert. Sein Fazit: Es gibt keine objektiven Noten. Entscheidend sei aber der Lernfortschritt – und der ist nicht mit einer Note wiederzugeben, sondern nur durch eine ausführliche schriftliche Beurteilung. – Das kommt einem doch bekannt vor.
Doch Wenzel, selbst über 30 Jahre als Lehrer tätig, bekam nicht nur zunehmend persönliche Skrupel bei seiner jahrelangen Notenverteilung. Er geht in diesem Interview, das er der Süddeutschen Zeitung gab, noch viel weiter, und das ist um so erstaunlicher, als die Lehrerverbände eher als konservative Erfüllungsgehilfen der Kultusministerkonferenz gelten: Er sagte, dass das gegliederte Schulsystem »Verlierer« produzieren muss, sonst würde die Selektion, die durch das System stattfindet, nicht mehr funktionieren und seine Legitimität verlieren. Und er setzt noch eins drauf, indem er für die Abschaffung kanonisierter und die Einführung individualisierter Lehrpläne plädiert.
Recht hat er, und doch hat die Groteske kein Ende. Das System muss aufrechterhalten werden, koste es, was es wolle – wie beim vorjährigen G8-Abitur in Bayern geschehen. Das bayerische Kultusministerium senkte per Dekret nachträglich die Standards für die Prüfungen, damit nicht so viele Schüler durchfielen. Die Verteilung von »Lebenschancen« über Noten wird damit zum statistischen Treppenwitz staatlichen Monitorings – unter dem aber Millionen von Schülern und Eltern real leiden. Verkauft wird das dreigliedrige Schulsystem aber als gerecht, durchlässig und chancengleich.
Über solche prominente Statements kann man sich freuen – und muss aufpassen, dass Waldorf nicht rechts oder links überholt wird – von Entscheidungsträgern, die die Absurdität eines Systems einsehen und es abschaffen wollen, an das sich die Waldorfschulen (immer noch) mühsam anzupassen versuchen.
Die Zeit ist reif für einen Systemwechsel.
Aus der Redaktion grüßt
Mathias Maurer