Erziehungskunst | Das Modern Dance Center gibt es seit über 30 Jahren. Haben sich die jungen Menschen verändert?
Berry Doddema | Im Prinzip nicht viel. Die Grundbedürfnisse der 15-Jährigen sind annähernd gleichgeblieben. Was sich geändert hat, ist das Umfeld. Schule ist wichtiger geworden – und sie nimmt mehr Zeit in Anspruch. Früher haben sich die jungen Menschen ihre Freizeitbeschäftigung selbst gesucht und kamen zum Tanzen. Heute sind es die Eltern, die merken, dass ihre Kinder einen Ausgleich brauchen und schicken sie schon in jungen Jahren zum Tanzen. Wirklich verändert hat sich die Altersstruktur in unserem Studio. Vor 30 Jahren fingen die Kinder im Alter von 13 bis 14 Jahren an zu tanzen. Heute brauchen wir Ausbildungskonzepte, die bei zweieinhalbjährigen Kindern beginnen.
EK | Hat sich dadurch Ihre Arbeit verändert?
BD | Früher war vieles feingeistiger. Heute ist alles straff organisiert, es wird mehr kontrolliert, die Handys sind allgegenwärtig. Da bleibt kein Raum, links und rechts zu schauen. Das merkt man besonders, wenn die Kinder in der 4. Klasse angekommen sind. Da beginnen die Weichenstellungen für die Zukunft. Es geht darum, dass die Kinder aufs Gymnasium kommen, möglichst gute Noten nach Hause bringen. Die Kinder bekommen die Wertewelt ihrer Eltern zu spüren. Sie müssen Erwartungen erfüllen und Leistung bringen.
Dann macht sich vor allem das virtuelle Umfeld bemerkbar, das sie nicht mehr wirklich im Jetzt leben lässt. Unsere Aufgabe ist es umso mehr, dafür zu sorgen, dass die Kinder etwas Spannendes erleben können, so wie früher, als man noch in einer Baugrube spielen konnte, über und über mit Schlamm bedeckt, durchgescheuerten Hosen, Kratzern und Schrammen. Die Kinder müssen Fehler machen können, um daraus zu lernen.
EK | Wie machen Sie das?
BD | Wir rütteln an den jungen Menschen, wir versuchen, ihnen Mut zu machen, wir entwickeln Modelle, wie wir sie längerfristig motivieren können. Wir bieten zum Beispiel Tanzreisen an: Lernt die Welt und die Tanzwelt kennen, kommt mit uns nach New York oder Stockholm. Meine Tochter Natascha, die selbst Tanzpädagogin ist, und andere begleiten die Mädchen und Jungen. Sie besuchen renommierte Tanzstudios, gehen zu Aufführungen und erleben Tanz auch mal aus der Anschauung. Und sie haben viel Zeit, mit Gleichaltrigen zusammen die Welt zu erleben. Kontrolliert, aber doch losgelöst vom familiären Einfluss.
EK | Wie reagieren die Eltern darauf?
BD | Es ist nicht einfach, wenn sich der Nachwuchs abnabelt. Wenn Kinder anfangen, anderen zu helfen, wenn sie bereitwillig Aufgaben übernehmen, um sich mit der Vergütung eine Grundlage für die Auslandsreisen zu schaffen. Interessant ist: Fordern die Eltern solches Engagement zu Hause, stoßen sie sehr oft auf taube Ohren.
EK | Was ist das Besondere an Ihrem Unterrichtskonzept?
BD | Wir bieten den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, immer mehr selbst am Geschehen teilzuhaben. Sie sollen sich aktiv beteiligen. Es ist gut, wenn sie früh Verantwortung übernehmen und Prozesse eigenständig gestalten können. Langeweile, mangelnde Herausforderung, fehlende Akzeptanz – das alles sind Faktoren, die Kinder depressiv und destruktiv werden lassen. Sie machen Sachen kaputt, leiden unter Essstörungen, ritzen sich oder nehmen Drogen. Daher ist es eines unserer Ziele, die Kinder so weit zu fördern, dass sie uns irgendwann in unserer Arbeit assistieren, uns also beim Vermittlungsprozess unterstützen können.
EK | Wie lange dauert das?
BD | Die meisten, die das machen, tanzen etwa sechs Jahre hier, haben also mit acht, neun Jahren angefangen. Unsere Assistentinnen sind jetzt um die 15 Jahre alt und kommen drei bis vier Mal in der Woche. 2017 startet unter meiner Leitung sogar eine Ausbildung, die die theoretischen und praktischen Hintergründe vermittelt, um als Assistentin arbeiten zu können.
EK | Wird Ihr Tanzstudio zu einer zweiten Familie für die Jugendlichen?
BD | Es ist ein Ort, an dem sie mit ihren Freundinnen und Freunden zusammen sein können. Jedes Kind muss sich mit 14 von zu Hause lösen können. Dann ist es gut, wenn sie einen Ort haben, an dem sie etwas aktiv machen können. Hier dürfen sie sich auch mal streiten, eigene Wertvorstellungen entwickeln. Jugendliche müssen Distanz zu ihrer Familie halten können. Und auch zu ihrer Schule, ihren Lehrern.
EK | Sie sind doch selbst Lehrer?
BD | Bei uns sprechen wir nur von Dozenten, da wir doch etwas anderes machen, als nur Inhalte zu vermitteln. Unsere Aufgabe ist es, Tanz als Kunstform lebendig werden zu lassen. Die Tänzerinnen und Tänzer durchlaufen einen Prozess, in dem sie lernen, ihre Phantasie sichtbar zu machen.
Tanz hat als Kunstform zwei Bedeutungen: eine kommunikative und eine ästhetische. Du musst mit einem Publikum kommunizieren – auch nonverbal. Du musst dich zum Ausdruck bringen, verständlich machen. Die ästhetische Bedeutung: Du musst in der Lage sein, einen Tanz zu gestalten. Das sind extrem herausfordernde Aufgaben, für dich selbst und für die Gruppe.
EK | Dann geht es weniger um Perfektion, sondern um den Ausdruck der eigenen Emotion?
BD | Sowohl als auch. Beides ist wichtig – mit unterschiedlichen Gewichtungen. Wir müssen bei den Schülern erkennen, wann was am besten gemacht werden kann, wann die Entwicklungsfenster für bestimmte Dinge offen sind. Achtjährige Kinder haben sehr oft eine goldene Phase: Sie lernen viele Bewegungen, Drehen und Springen. Da macht es keinen Sinn, sie mit Ausdruck zu behelligen. Wir müssen die technisch wertvolle Phase auch für Technik nutzen.
Beginnt das Längenwachstum, verlieren viele Kinder das Gleichgewicht. Jetzt ist das Fenster offen für Themen rund um den Ausdruck, Angebote, wie sie weiterkommen. Die Kinder mit technischen Übungen zu frustrieren wäre kontraproduktiv. Wir Dozenten beobachten sehr genau, in welcher Phase sich welches Kind gerade befindet.
EK | Kann man in einem Tanzstudio etwas fürs Leben lernen?
BD | Eindeutig. Wir haben das einmal zusammengestellt. Im Prinzip sind es zehn Punkte, die künstlerischen Tanz wertvoll für die persönliche Entwicklung machen: Tanz entwickelt Kreativität, stärkt das Vertrauen und fördert die Zuversicht, er trainiert das Durchhaltevermögen, fördert Konzentration auf das Wesentliche und Hingabe gleichermaßen, verbessert die nonverbale Kommunikation und das Gefühl für Verantwortung. Tänzer verstehen Probleme zu lösen, gehen positiv mit Feedback um und schließlich: Sie können führen und sich führen lassen.
Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, was alles im künstlerischen Bühnentanz steckt. Der größte Fehler, der gemacht wird, ist, ihn rein auf Bewegung zu reduzieren.
EK | Kennen Sie Eurythmie?
BD | Unsere zwei Kinder haben die Waldorfschule besucht, inzwischen zwei Enkel, die in einem Waldorfkindergarten sind. Meine Frau arbeitet als Therapeutin im anthroposophisch ausgerichteten Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke. Wir kennen also die Eurythmie und haben immer auch Waldorfschüler unter unseren Schülern, die man als solche leicht erkennt. Meine Frau hat mehrfach Eurythmielehrer bei sich im Unterricht gehabt, in dem sie erfahren konnten, wie man Tanzmaterialien in kreative Prozesse umsetzt. Ich erinnere mich an eine fortgeschrittene Tanzschülerin, die eigentlich Tanzpädagogik studieren wollte, der wir empfohlen haben, ihre Ausbildung an der Hochschule für Eurythmie in Den Haag fortzusetzen.
Die Fragen stellte Melanie Hoessel