Lebensraumgestalter

Erziehungskunst | Mit der gesellschaftlichen Veränderung der letzten Jahre hat der Bedarf an Nachmittagsbetreuung enorm zugenommen. Wie reagieren die Waldorfschulen auf diese Entwicklung?

Astrid Homeyer | An meiner Schule Hannover-Maschsee gibt es seit 1959 einen Hort. Wir blicken also schon auf eine lange Tradition der Nachmittagsbetreuung zurück. Manchmal kommt es vor, dass Eltern ihre Kinder für den Hort anmelden und uns den Platz zeigen, an dem sie selber schon als Kind gesessen haben. Heute sind viel mehr Eltern auf eine Nachmittagsbetreuung angewiesen und machen ihre Schulwahl von einem entsprechenden Angebot abhängig. Sie wünschen sich eine liebevoll gestaltete Nachmittagsbetreuung für ihre Kinder. Die Waldorfschulen haben auf diesen Bedarf reagiert. Alle Waldorfschulen in Deutschland bieten heute eine Nachmittagsbetreuung an. Aber es gibt auch Eltern, die ihre Kinder nach Schulschluss abholen möchten. Darum ist uns für diese Eltern die Wahlfreiheit sehr wichtig.

Ralf Buchmann | In den neuen Bundesländern ist jede Waldorfschule gleich mit einem Hort gegründet worden, weil die Eltern es gewohnt waren, dass die Kinder betreut wurden.

Lutz Atteln | In der Mannheimer Waldorfschule gab es einen Wartehort, der nur bis 15 Uhr geöffnet hatte. Gleichzeitig gab es einen Waldorfkindergarten, der eine Ganztagesbetreuung anbot. Nun war die Frage der Eltern, wie geht es weiter, wenn mein Kind nach dem Kindergarten in die Waldorfschule kommt. Daraufhin wurde 1992 der Hort an der Freizeitschule direkt neben der Waldorfschule gegründet. Wir haben bis 17 Uhr geöffnet und wir bieten auch Ferienbetreuung an, was für berufstätige Eltern sehr wichtig ist.

EK | Eltern fordern von Kindergärten und Schulen immer häufiger ein ganztägiges Betreuungsangebot. Nicht selten ist es das Hauptkriterium ihrer Schulwahl. Pädagogisch unbestritten ist, dass die Fremdbetreuung umso ungünstiger auf die Entwicklung des Kindes wirkt, je jünger es ist. Wie begegnen Sie diesem Dilemma?

LA | Hortkinder aus Kinderkrippen erkennen wir leicht an ihrer sozialen Distanz- und »Hüllenlosigkeit«. Deshalb bietet die Freizeitschule als Alternative eine berufsbegleitende Waldorftagesmutter-Ausbildung an. Aus unserer Sicht sollten Kinder unter drei Jahren lieber bei einer Tagesmutter untergebracht werden. Erst danach ist eine Ganztagsbetreuung sinnvoll.

AH | Wir legen großen Wert darauf, dass für die Kinder verlässliche, vertraute Bezugspersonen da sind und dass der Betreuungsschlüssel es ermöglicht, uns den Kindern individuell zuzuwenden. Wir reden ja von Kindern, die bereits in die Schule gehen, also in der Regel sechs Jahre alt sind. Doch wir wissen, dass Verlässlichkeit und Bindung zu festen Bezugspersonen auch für Kinder dieses Alters von enormer Bedeutung sind. Kommt ein Kind aus der ersten Klasse zu mir in den Hort, möchte ich in den ersten Wochen Zeit haben, es an der Klassenzimmertür abzuholen und gemeinsam mit ihm nach Jacke, Mütze und Schulranzen zu schauen. Auf dem Weg zum Hort kann ich dann fragen, wie der Schultag war, kann zuhören, kann eine Beziehung aufbauen, Sicherheit geben. Je jünger ein Kind ist, desto wichtiger ist mir das, selbst wenn der Weg vom Klassenraum in den Hortraum nur kurz ist.

RB | Der Beziehungsaufbau und die Beziehungspflege ist der einzige Ausweg aus dem Dilemma. Dann kann die Betreuung sogar ein Haltepunkt für das Kind werden, wenn Eltern oder Lehrer als Bezugspersonen wegfallen.

EK | Wie werden die Schulen den unterschiedlichen Bedürfnissen der Eltern – vom stundenweisen Besuch einer Kernzeitbetreuung mit und ohne Mittagessen bis hin zu einer nahezu ganztägigen Betreuung der Kinder – gerecht?

AH | Die Bedürfnisse der Kinder stehen für uns im Mittelpunkt. Aber selbstverständlich schauen wir auch auf die Eltern, denn wenn wir ihre Kinder »gut« betreuen, kann der Spagat zwischen Beruf, Kindern und Partnerschaft besser gelingen. Wie an den Schulen die Betreuungszeiten gestaltet werden, ist sehr individuell und immer von den finanziellen Rahmenbedingungen abhängig.

LA | Den Bedürfnissen der Kinder und Eltern versuchen wir so gut wie möglich entgegenzukommen. Man kann zwei bis drei oder vier bis fünf Tage in den Hort kommen. Wir nehmen alle Kinder in den Hort auf. Es gibt bei uns keine Wartelisten, und wir finden immer eine Lösung, die auf die individuellen Bedürfnisse der Eltern und Kinder passt.

RB | Alle Kinder der Klassen 1-4 der Weimarer Schule können auch den Hort besuchen, ohne weitere Kosten. Ob eine Stunde in der Woche oder jeden Tag bis 17 Uhr kann jede Familie selbst entscheiden. Wobei wir den Eltern schon auch sagen, dass Regelmäßigkeit stärkt und ständiges Hin und Her Kräfte kostet. Aber das Leben ist ja nun nicht immer optimal regelmäßig. Deshalb ist die Beziehung der Hortner zu den Kindern unterschiedlich, wobei die Dichte meist, aber nicht immer, mit der Länge der Aufenthaltsdauer zunimmt. Auch zu den Kindern, die nur kurze Zeit betreut werden, entstehen teilweise enge Beziehungen.

EK | Kinder sollen am Nachmittag nicht nur betreut und »bespielt« werden, sondern auch ein sinnvolles Umfeld haben. Zusätzlich sind die Altersunterschiede der Kinder groß. Wie meistern Sie diese Herausforderung?

LA | Ein sinnvolles Umfeld ist an der Freizeitschule von Anfang an gegeben gewesen. Wir haben ein großes Außengelände und in der Nähe als »Naturspielgelände« den Rhein und einen Baggersee, wo wir regelmäßig Kanu fahren oder schwimmen gehen. Es gab davor schon Ferienprogramme und Kinderkurse von 15-17 Uhr täglich, diese Tradition haben wir im Hort weiterentwickelt. Wir achten darauf, dass in jeder Gruppe ein weiblicher und männlicher Kollege arbeitet. Für Kinder mit heilpädagogischem Förderbedarf ist es selbstverständlich, dass sie mit den anderen Kindern zusammen spielen und leben. Im Großen findet in der Schule mehr das Einatmen statt, im Hort das Ausatmen.

RB | Die Nachmittagsbetreuung und in Zukunft auch die gesamte Schule wird immer mehr zum Lebensraum für die Kinder werden. Und die sinnvoll tätigen Erwachsenen sind die Lebensraumgestalter, die den Raum bereiten, in den das Kind hineinleben, hineinspielen kann. Durch Arbeit, die nicht direkt auf das Kind gerichtet ist, kann der Freiraum entstehen, in dem es einfach nur sein kann. Ein Schulhof reicht dafür nicht aus. Da braucht es Wasser, Tiere, einen Garten, einen Backofen, Wald, Werkstätten, Handwerk und eine Küche.

EK | Das Konzept Lebensraum Schule bedeutet: Die vormittägliche Lernschule ist dem Freiraum am Nachmittag gleichgestellt. Wie erleben Sie diese Gleichstellung zum Beispiel in kollegialer, finanzieller oder personeller Hinsicht?

AH | Für mich wird das Urbild für die kollegiale Zusammenarbeit in der Ansprache deutlich, die Rudolf Steiner gegenüber den Pädagogen der ersten Waldorfschule 1919 gehalten hat, bevor er mit ihnen in der »Allgemeinen Menschenkunde« die Grundlagen der Pädagogik erarbeitete. »Alle stehen in einem Kreis, sind mit einander auf einer höheren Ebene verbunden und von einem zum anderen wird getragen, was einer dem anderen zu geben hat.« Ich erlebe im pädagogischen Austausch die Wirksamkeit dieser Worte. Gleichwohl würde ich mir noch mehr Wertschätzung für die Arbeit am Nachmittag wünschen. Ich treffe immer wieder Kollegen, die an ihrer Schule äußerst gering entlohnt werden und nicht selbstverständliches Mitglied der pädagogischen Konferenz sind. Da wünsche ich mir noch mehr Wachheit füreinander, damit die Hortarbeit überall der vormittäglichen Lernschule gleichgestellt und als gemeinsames Ganzes verstanden wird.

RB | Lehrer und Erzieher sind wohl nicht umsonst zwei verschiedene Ausbildungsstränge. Unterrichten und »Hortnern« scheinen doch verschiedene Herangehensweisen an das Kind zu sein, wobei beide Seiten ja notwendig sind. Den ganzen Tag Unterricht wünscht man keinem Kind; den ganzen Tag »Hort« vielleicht schon eher, aber eigentlich kommt es doch zum Lernen und Üben in die Schule, um dann – nach getaner Arbeit – zu spielen. Sobald das Ganze in den Blick genommen wird, ist die kollegiale gegenseitige Anerkennung meistens gegeben. Finanziell: Die 30-Stundenwoche im Hort entspricht einem 3/4 Lehrerdeputat mit etwa 18 Unterrichtsstunden. Personell ist in der Betreuung noch Luft nach oben. Bei den Lehrern aber genauso.

LA | Am Anfang gehörte der Hort an der Freizeitschule zur Waldorfschule. Als Hortner habe ich eine ganze Stelle und bekomme dasselbe Gehalt wie ein Lehrer. Von Anfang an nahm ich an den Konferenzen teil.

Die Situation in den anderen Horten ist leider teilweise schlechter. Es gibt sogar Horte, die überlegen, deswegen einen Betriebsrat zu gründen.

EK | In welchen Bereichen erleben Sie die stärksten Defizite und wie könnten sie behoben werden?

RB | Wir könnten ganz klar mehr Personal brauchen, um dann auch mehr Räume für die Kinder öffnen zu können. Oft erlebt man auch eine große Fluktuation der Nachmittagsbetreuer, was zum einen sicher auf die Arbeitsbedingungen, zum anderen aber auch auf das Selbstverständnis und die Anerkennung des »Berufstandes der Nachmittagsbetreuer« zurückzuführen ist.

LA | Wenn ich auf die Gesamtsituation der Horte schaue, würde ich mir mehr Kollegen wünschen, die fest in Waldorfpädagogik und Anthroposophie verankert sind.

AH | Oft wird eine Betreuung nur bis zur vierten Klasse angeboten. Aber auch die Schüler der 5. oder 6. Klasse brauchen einen festen Ansprechpartner. Genauer auf die späte Kindheit zu schauen und dort für gute Bedingungen zu sorgen, wäre mir wichtig.

EK | Was brauchen die Kinder heute besonders?

RB | Spielzeit, Spielzeit und nochmals Spielzeit – die Terminpläne unserer Kinder sind doch oft reichlich gut gefüllt. Und natürlich Erwachsene, die sich für die Kinder interessieren und die Beziehung suchen, um des Kindes willen, nicht um der Anerkennung der eigenen Arbeit oder der Person willen.

EK | Wird die Arbeit am Nachmittag evaluiert?

RB | Wenn es gelungen ist, ein Vertrauensverhältnis zu den Eltern aufzubauen, gibt es im Gespräch oft gute und auch kritische Rückmeldungen. Wenn wir Referenten oder Berater an der Schule haben, versuchen wir, sie dazu zu bewegen, im Hort zu hospitieren und uns Rückmeldungen zu geben.

LA | Wir evaluieren uns jeden Mittwochmorgen im Team mit den Freizeitschulkollegen. Auch am Donnerstagvormittag bei unserer Kernkollegiumskonferenz nehmen wir uns Zeit dafür.

AH | Evaluation bedeutet ja überprüfen und anpassen. Ich sehe es als meine Aufgabe an, diese Grundhaltung in meine tägliche Arbeit zu integrieren. Meine unausgesprochene Frage an die Kinder ist: »Geht es Dir gut?« und »Was kann ich beitragen, dass es so ist?« Wenn Steiner uns dazu auffordert, abends auf den Tag und die Kinder zurückzublicken, dann hat er uns aus meiner Sicht ein gutes Instrument für die Evaluation unserer Arbeit gegeben. Mir fällt am Abend sofort auf, wo es mal gehakt hat und ich kann am nächsten Tag »nachbessern«. Verlässt ein Kind unseren Hort, führen wir ein Abschlussgespräch mit den Eltern. Immer fragen wir auch: »Was hat Ihnen besonders gefallen und gibt es etwas, was Sie vermisst haben, etwas, was wir zukünftig anders machen könnten?«

EK | Angenommen, Sie wären unabhängig von finanziellen, personellen und pädagogischen Voraussetzungen und frei, eine Vision zu entwickeln: Wie sähe für Sie eine ideale Nachmittagsbetreuung aus?

RB | Ein »Dorf«, umgeben von Obstbaumwiesen und Weiden, durchzogen von einem Bach, verstreut stehen Häuschen mit Gärten, Werkstätten und Ställen darin und am Rande ist auch eine Schule zu finden. Diesen großen Lebensraum gestalten die schaffenden Erwachsenen. Da gibt es die Handwerker in ihren Werkstätten, bei denen die Kinder zuschauen oder mithelfen können, da wird gekocht und gebacken, geschmiedet, getischlert und getöpfert, der Garten bestellt und geerntet, die Tiere werden versorgt und gepflegt. Da wird das getan, was getan werden muss, in Pausen gemeinsam gegessen und ausgeruht. In diesem großen Ganzen finden die Kinder Plätze zum Spielen und Entdecken, zum Selbertun oder Mittun. Sie finden Erwachsene, die Zeit für sie haben, sich ihnen zuwenden, ihnen zuhören. Es sind nur Menschen dort tätig, für die das der schönste Beruf auf Erden ist. Das Verhältnis von Erwachsenen zu Kindern beträgt eins zu sechs und die Erwachsenen erhalten ein Gehalt, von dem sie leben und auch in Urlaub fahren können.

AH | In unserer Gesellschaft orientiert sich das Arbeitsleben an den Menschen, die keine Kinder haben und frei von dieser gesellschaftlich notwendigen Aufgabe sind. Ihr Einsatz, ihr Zeitrahmen wird zur alles bestimmenden Orientierung. Ein Freund von mir ist mit seiner Familie nach Norwegen gezogen. Als er am ersten Arbeitstag nach alter Gewohnheit um 16 Uhr noch am Schreibtisch saß, wurde er von seinen neuen Arbeitskollegen freundlich, aber bestimmt gefragt: »Was machst Du noch hier? Du hast doch Kinder zuhause!« Inzwischen hat er sich den neuen gesellschaftlichen Normen angepasst und genießt sie. Ich wünsche mir diese Einstellung auch für uns in Deutschland: Familien sollten den Maßstab für das Arbeitsleben geben und Eltern sollten Zeit haben, sich entspannt um ihre Kinder kümmern zu können.

LA | Diese Frage möchte ich eher gesamtgesellschaftlich beantworten. Viele Forderungen, die man stellen könnte, sind eher Flickschusterei an defizitären Strukturen. Die Freizeitschule ist ja aus dem volkspädagogischen Impuls Steiners entstanden. Es geht also um Kultur- und Sozialpädagogik. Ich würde jeder Waldorfschule eine Freizeitschule wünschen. Eltern und Kinder bräuchten mehr Zeit und Geld füreinander. Dies wird sicherlich erst in einer Gesellschaft der sozialen Dreigliederung möglich sein.

Die Fragen stellte Mathias Maurer.

Zu den Gesprächspartnern: Lutz Atteln ist Erzieher und seit 1993 leitender Mitarbeiter und Hortner an der FreiZeitSchule Mannheim; Ralf Buchmann ist Landwirt und Waldorferzieher; seit 2004 im Hort der Freien Waldorfschule Weimar tätig; Astrid Homeyer ist Waldorflehrerin und seit 2003 im Hort der Freien Waldorfschule Hannover-Maschsee tätig.