Ganz schön enthusiastisch, die Schüler? »Ja, die sind stolz, weil sie das Stück selbst entwickeln durften, glücklich, dass es so gut gelungen ist, und aufgeregt, wie es ankommen wird«, sagt Marcus Lachmann und schaut auf die Schülergruppe, die immer noch angeregt diskutiert.
»Trashing« heißt das Stück, das bald Premiere haben wird. Die Schüler haben es selbst auf der Basis des Romans »Trainspotting« von Irvine Welsh über Improvisationen entstehen lassen. Wie ist Marcus Lachmann gerade auf dieses Stück gekommen? »Ich habe eine Methode entwickelt, um herauszufinden, was eine Klasse will, für was sie brennt und was ihr gut tun würde.« In einem eigens entwickelten Fragebogen findet der Regisseur heraus, welche Form von Theater die Schüler interessant finden, welche Themen spannend sind und wie sie die Klasse und sich selbst in ihr einordnen würden. Auf der Basis der Auswertung des Fragebogens schlägt Lachmann bis zu fünfzehn verschiedene Stücke und Materialien vor.
Natürlich dürfen auch die Schüler Vorschläge machen. Nach Sichtung durch die Dramaturgiegruppe der Klasse bleiben drei bis vier Stücke übrig. In diesem Jahr kamen in Gummersbach neben »Trainspotting« noch »Die Verbrecher« von Ferdinand Bruckner und »Das große Massakerspiel« von Eugène Ionesco in die Endauswahl.
In einem Wochenendworkshop findet die gesamte Klasse schließlich zum Stück und zu der Form, in der es dargeboten werden soll.
Ungewöhnliche Stücke für ungewöhnliche Schüler
Marcus Lachmann ist der lebende Beweis: Es muss nicht immer »Was Ihr wollt«, »Ein Sommernachtstraum« oder »Krach in Chiozza«, »Der Besuch der alten Dame« oder »Krabat« sein. Aufgrund seiner langjährigen Arbeit an den unterschiedlichsten Theatern steht Lachmann ein Fundus von mehr als hundert klassenspielgeeigneten Stücken aus allen Jahrhunderten zur Verfügung. Die Liste wächst stetig weiter.
»Das ungewöhnlichste Stück einer 12. Klasse«, erzählt Lachmann, »war in Witten eine Collage aus Texten von Lorca, die unter dem Titel ›Theater ist Lüge‹ zur Aufführung kam. Der Untertitel ist ein Satz, den ich im Zusammenhang mit Klassenspielen seitdem immer gerne zitiere: ›Wenn Sie versuchen zu verstehen, dann werden Sie nichts begreifen‹.«
Das ungewöhnlichste Stück in einer 8. Klasse sei wahrscheinlich »Der gestiefelte Kater« von Ludwig Tieck an der Schule Hamburg-Bergedorf gewesen. Eine satirische Gesellschaftskomödie, in der die märchenhafte »Kater«-Handlung immer wieder durch protestierende (Schauspieler-)Zuschauer unterbrochen wird, die die Geschehnisse des Stückes durcheinanderbringen. Diese ironisch-anarchischen Brechungen seien eine wunderbare Möglichkeit für die 14-Jährigen gewesen, mit der sie den Übergang vom Kind zum Jugendlichen wahrhaft feiern konnten.
Auf allen Bühnen zu Hause
Der Theaterpädagoge Marcus Lachmann arbeitet deutschlandweit. Als Waldorfschüler in Pforzheim hat er seine ersten Schritte auf der Bühne gemacht. Dort erlebte er seine ersten Klassenspiele – noch aus der Schülerperspektive. Schnell war ihm klar, dass Theater sein Beruf war. Er schaffte – gerade mal 17-jährig – die Aufnahmeprüfung in Bochum, an einer der besten Schauspielschulen Deutschlands. »Wir waren jung, wir wollten das Theater revolutionieren, uns selbst erfahren, dem Publikum zu außergewöhnlichen Erfahrungen verhelfen.« Eine aufregende bewegte Zeit, eine Zeit, in der Peter Zadek mit Ulli Wildgruber und Hannelore Hoger das Schauspielhaus runderneuerte und die Art, wie man Shakespeare zu spielen hatte, neu erfand.
Es folgten viele erfolgreiche Jahre als Schauspieler in Zürich, Frankfurt, Stuttgart, Hamburg und Hannover, als Regisseur in der gesamten Republik, als Schauspieldirektor in Rostock, als Oberspielleiter – direkt nach dem Fall der Mauer – in Parchim und Nordhausen, eine Zeit, die Marcus Lachmann als besonders bereichernd empfindet. Er arbeitet mit Hans Günther Heyme, Einar Schleef, Günther Krämer und Holk Freytag. Er ersinnt mehr als hundert Inszenierungen, spielt unzählige Hauptrollen und widmet sich, wenn seine Zeit es zulässt, der Bühnen- und Kostümausstattung. Und die gesamte Zeit arbeitet Marcus Lachmann immer wieder mit Jugendlichen. Die sind begeistert, endlich dürfen sie mal was wagen! Endlich mal einer, der zuhört, was sie sich so denken und bereit ist, es gemeinsam mit ihnen umzusetzen.
Nähe zum Theater, Nähe zu den Jugendlichen
Marcus Lachmann lehnt sich zurück, lässt seine Schüler aber nicht aus den Augen. »Ich war ja selbst Künstler, ich konnte mich ausprobieren, neue Erfahrungen sammeln, mich verwirklichen – das hatte ich ja bei meinen eigenen Auftritten als Schauspieler oder bei meinen Inszenierungen als Regisseur«, sagt er. Auf dieser Basis habe er zuhören können, sei er offen gewesen für das, was ihm entgegenkam. »Ich wollte die Jugendlichen an große Texte der Weltliteratur heranführen«, sagt er. »Aber ich wollte ihnen die Form nicht aufzwingen, ich wollte sie selbst suchen und finden lassen.« Die Jugendlichen sollten selbstbewusst die Kreativität ihrer eigenen Jugend, ihrer eigenen Zeit finden.
Am nächsten Tag die erste Hauptprobe: Kostüm, Maske, Licht, das volle Programm. Die Schüler sind konzentriert, gespannt wie Flitzebögen und überaus sensitiv. Sie wollen ein großes Theaterereignis schaffen, sie wollen der Welt ihre neu entfachte Leidenschaft zeigen. Nach ein paar Atem- und Wahrnehmungsübungen entlässt Lachmann sie in ihr Stück. Und das, was man sieht, ist bemerkenswert und könnte in puncto Bühnenbild, Ausstrahlung und Bühnenpräsenz mit jeder Staatstheaterbühne mithalten. Das Spiel beginnt schon, bevor das Publikum eingelassen wird, das dann später überall zwischen den agierenden Schülern sitzt. Diese spielen um das Publikum herum und beziehen es ein. Es beginnt ein Reigen aus Choreographien der gesamten Klasse, der im gesamten Bühnenraum mal hier, mal da schlaglichtartig aufleuchtet. Jeder Schüler tritt einmal solistisch in den Vordergrund und immer wieder findet die ganze Klasse zu großen Gruppenszenen zusammen. Es geht um Drogen und Liebe, Konflikte mit den Eltern, Konflikte untereinander, um Einsamkeit und Nähe, Gewalt und Sex und Tod. Die Probe ist beendet, die Schüler bereiten Requisiten und Kostüme für morgen vor. Lachmann hält sich raus. Keine Angst, dass morgen zur Premiere alles heillos durcheinander ist? Marcus lacht: »Es ist ihr Stück, sie werden achtsam sein.« Zwei Tage später: Premiere. Das Lampenfieber ist übermächtig. Da helfen nur Atemübungen und »über die Schulter spucken«. Marcus Lachmann ist der Fels in der Brandung, beruhigt, schlichtet und macht Mut: »Wir zeigen hier einen Ausschnitt unserer gemeinsamen Arbeit, es ist quasi eine um Zuschauer erweiterte Probe!« Doch heute wirken seine Worte nicht, die Aufregung ist einfach zu groß.
Und endlich geht es los. Bühnenbild und Inszenierung tun ihre Wirkung. Eltern, Lehrer, Freunde schauen gebannt. Was ist mit ihren Kindern und Schülern geschehen? Ist das die ›stille Marie‹, der ›bornierte Jonathan‹, die ›distanzierte Sophie‹? Sind diese jungen Menschen, die hier mit dieser Leidenschaft spielen, dieselben Schüler, die sonst gelangweilt oder schwatzend den Unterricht stören?
Nach dem Stück minutenlang standing ovations. Marcus Lachmann wird auf die Bühne geholt, auch er strahlt. Sein Strahlen schließt das Wissen ein, wie man mit Theater Begeisterung und Leidenschaft erzeugen kann. Manchmal ein Leben lang.
Zur Autorin: Gabi Schlag arbeitet als Regisseurin und Autorin für Film und TV.