Ich habe zwei Jungs in der 9. und 10. Klasse. Wenn ich die beobachte, kann der Druck nicht allzu stark sein. Überforderung oder gar Verzweiflung ob der übergroßen Belastung habe ich bei ihnen noch nicht erlebt. Manchmal schreiben sie etwas in ihren Zimmern, meistens aber verbringen sie die Zeit zu Hause mit Arbeiten, die ich ihnen auftrage, an ihren Rechnern oder gemeinsam mit der Familie beim Essen, Reden oder Spielen. Wenn ich nach Hausaufgaben frage, sind die meist schon erledigt.
»Was ist denn, wenn ihr die Hausaufgaben nicht macht?« – »Jaa, wenn man sich erwischen lässt, müssen sie nachgemacht werden, notfalls sogar am Sonnabend.« Das passiert nur in Ausnahmesituationen, der (Kontroll-)Druck der Lehrer scheint also begrenzt zu sein. »Und wofür geht ihr überhaupt in die Schule?« – »Weil wir müssen und weil wir einen Abschluss brauchen, weil ohne geht es eben schlechter im Leben.« Antworten, die man an jeder beliebigen Schule in Deutschland so zu hören bekommt.
Schon als Kind habe ich meine Freunde und Bekannten nicht nach ihren schulischen Leistungen gefragt oder ausgesucht. Mich haben die Menschen interessiert, das, was sie machten, was sie dachten, wie sie sich ins Leben stellten.
Auch später hat mich der persönliche Eindruck eines Menschen mehr interessiert als irgendwelche Leistungen: Ist er ehrlich? Was will er eigentlich? Macht er das, was er tut, gern? Leistungen waren für mich immer konkreter Ausdruck individueller Fähigkeiten, die schulischen nur ein kleiner, unwichtiger Teil davon. Ich selbst habe immer nur Dinge getan, die mich interessierten und die ich für sinnvoll hielt. Diese Einstellung vermittle ich zwangsläufig auch meinen Kindern.
Leistungsorientierte Teilung kann praktisch sein
Die Teilung der Klassen in leistungsstärkere und -schwächere Schüler zur gezielten Vorbereitung auf das Abitur hat positive und negative Seiten. Von Schülerseite wird die Teilung im Großen und Ganzen nicht als diskriminierend erlebt, da schon in jüngeren Klassen geteilt wird, ohne Differenzierung nach Leistungsvermögen, einfach aus praktischen Gründen. Auch die spätere, leistungsorientierte Teilung wird von ihnen praktisch aufgefasst: Die Schüler, die einen höheren Abschluss wollen, müssen auch schwerere Aufgaben lösen. Außerdem ist in diesem jugendlichen Alter ein Kräftemessen nicht ungewöhnlich und so werden eben die Testergebnisse verglichen. Wenn die Klassengemeinschaft stabil ist und in der Klassenlehrerzeit die Selbstverständlichkeit der individuellen Unterschiede gepflegt wurde, wird auch später niemand wegen zu schlechter oder zu guter Leistungen verspottet oder gar Schlimmeres.
Pädagogische Anerkennung durch bestandene Abiturprüfungen?
Als problematisch von Lehrerseite erlebe ich eine gewisse Versuchung, die eigene pädagogische Anerkennung und die »ihrer« Schule in der Anzahl der bestandenen Abiturprüfungen zu suchen. Wer viele Schüler durch das Abitur bringt, muss ja pädagogisch richtig liegen. Zweifeln und Sorgen von Eltern wegen ausbleibender Ergebnisse wird oft mit dem Argument begegnet, dass Waldorfschulen durchschnittlich einem größeren Anteil aller Schüler das Abitur verschaffen, als dies bei staatlichen Schulen der Fall ist. Dabei wird vergessen, dass jene ein Jahr mehr Zeit haben und auch Klassen mit 95 Prozent Schülern aus Migrantenfamilien den staatlichen Durchschnitt zugunsten der Waldorfschulen drücken. Selbst das Aushängeschild Interkulturelle Schule Mannheim zieht bei 50 Prozent die Reißleine, aus guten Gründen.
Jeder Mensch ist etwas Einzigartiges – aber bitte nur mit Abitur
Auf den Elternabenden zeigt sich bei allen Unterschieden in den Erwartungen und Zielen immer ein gewisser Konsens: Wir sind eine Waldorfschule, Leistungen sind Ausdruck eines gewissen Entwicklungsstands, können aber unterschiedlich bewertet werden. Sie sind nicht von zentraler Wichtigkeit. Jeder Mensch leistet auf seine Art etwas Wertvolles und Einzigartiges. Der Mensch mit seinen Bedürfnissen steht im Mittelpunkt. Wer Abitur oder Abschlüsse vor allem will, muss eine andere Schule wählen. Man kennt sich und vertraut sich auch.
Auf der schulischen Ebene wird es schon diplomatischer. Die »Öffentlichkeit« mit ihren oberflächlichen Bewertungen ist näher. Um so vorsichtiger meint man als Repräsentant, also vor allem als Lehrer, sein zu müssen: Der Mensch als eine sich entwickelnde geistige Individualität und eine an ihr orientierte Pädagogik sind dem öffentlichen Bewusstsein nicht ohne Weiteres zuzumuten. Man will nicht in die Ecke der weltfremden Idealisten gestellt werden.
Es ist für die übergroße Mehrheit der modernen Menschen eine Selbstverständlichkeit, für einen guten Schul-Abschluss ihrer Kinder zu sorgen. Das ist heute so selbstverständlich und unhinterfragt, dass jeder, der es in Frage stellt, gar nicht ernst genommen oder sogar als unverantwortlich angesehen wird. Natürlich sollte Bildung auf eine Art erfolgen, so der Tenor, die der Entwicklung des jungen Menschen nicht schadet, aber ein schlechter Abschluss schadet noch viel mehr. Deshalb ist Bildung immer mehr zu einem Abschluss-Erwerb geworden.
Waldorf als Lifestyle
Auch die Waldorfschulen stecken inzwischen in diesem Dilemma. Waldorf will eine Schule für alle sein, also werden nach außen die äußeren Erfolge betont: hohe Abiturientenquote, Selbstbestimmung, anerkannte und mit prominenten Beispielen unterlegte Erfolge von Waldorf-Absolventen. Man freut sich über steigende Schülerzahlen und sieht sie gern als Ausdruck des Erfolgs der Waldorfpädagogik. Waldorf ist zum Lifestyle geworden. Die menschenkundlichen Grundlagen, die Anthroposophie, interessieren die Mehrheit der Eltern nicht wirklich. Einige fragen dann schon beim Aufnahmegespräch nach dem Abitur. Ungeduld kommt auf, wenn die eigenen Kinder später lesen und schreiben können als Gleichaltrige an anderen Schulen. Man sorgt sich um die berufliche Zukunft der Kinder, ist verunsichert.
Aus dieser Unsicherheit wächst Angst. Unsicherheit und Angst erlebe ich bei Eltern, aber auch bei Lehrern. Angst um die Zukunft der eigenen Kinder, Angst, ein schlechter Erzieher zu sein oder als ein solcher dazustehen, überhaupt Fehler zu machen, Verantwortung für die eigenen Fehler übernehmen zu müssen.
Hier sehe ich die eigentliche Ursache des »steigenden Leistungsdrucks« an Waldorfschulen: in der Unsicherheit der Erzieher, Lehrer wie Eltern. Um wieder Sicherheit zu bekommen, sucht man nach äußeren Ergebnissen. Die kann man dann quasi als Beweis der eigenen Tüchtigkeit nach außen vorzeigen und für sich selbst als Bestätigung nehmen. Je größer die Unsicherheit, umso wichtiger werden die äußeren Ergebnisse. Das sind in der Schule dann gute Testergebnisse, erledigte Hausaufgaben, gute Schulabschlüsse, eben »Leistungen«. Je wichtiger die Leistungen werden, umso größer werden die Anstrengungen, die ich unternehmen muss, um sie zu erreichen. Diesen Zwang zu mehr und besseren Leistungen erlebe ich als Druck. Eltern setzen sich selbst und ihre Kinder unter Druck, um Selbstbestätigung zu finden, Kinder erleben das an ihren Eltern und übernehmen dieses Verhaltensmuster. Lehrer wollen gute Lehrer sein und meinen, dies mit guten Leistungen ihrer Schüler beweisen zu können. Die Ursache »steigenden Leistungsdrucks« liegt in der wachsenden Suche nach einem Ausweg aus der inneren Unsicherheit.