Frühkindliche Erziehung gehört in die Familie

Fabrizio Venturini

Es sieht so aus, als käme die Wahrheit scheibchenweise doch ans Licht, dass das frühe Weggeben der Kinder aus der Familie für ihr Wohl nicht förderlich ist. Verwunderlich bleibt, dass man auf dem Feld der Gegenargumente nur den Kinderarzt Rainer Böhm anführt, denn es gibt längst andere kritische Studien aus Österreich, England, Skandinavien und Kanada (Aric Sigman, Anna Dahlström, Nursey World 9/2011 und Sozialpädiatrie aktuell 5/2011). Nur ist es tatsächlich in erschreckendem Maße so, dass wissenschaftliche Kritik an der institutionellen frühkindlichen Betreuung und Bildung von Seiten der Wirtschaft und der Politik massiv behindert wird (Brigitte vom Lehm, Stuttgarter Zeitung 18.11.2011).

Es wird Zeit, dass praxiserfahrene Menschen sich trauen, ihre Beobachtungen und Besorgnisse auszusprechen. Ich hatte jahrelange berufliche Erfahrung damit und kann bestätigen: Es gibt eine kleine Anzahl von Einrichtungen, wo die Betreuung kleiner Kinder außerhalb der Familie gut zu gehen scheint.

Mindestgrundlage dafür ist eine pädagogische Kraft für drei Kinder. Aber in den überwiegenden Fällen entdeckt man hinter der äußeren Fassade enorm viel Stress, Konzeptlosigkeit, wenig Wahrnehmung des seelischen Befindens, wenig kollegialen Austausch, viel Handygebrauch zur Beruhigung der Eltern, viel Unrhythmik – nicht nur durch Schichtwechsel, sondern vor allem durch die ständig variierende Präsenz der Kinder.

Insbesondere müssen endlich auch anthroposophisch-menschenkundliche Argumente deutlicher eingebracht werden. Denn besorgniserregend ist neben der zunehmenden Aggressivität der Kinder ihre abnehmende Bindungsfähigkeit. Es besteht die Gefahr, dass Krippenkinder sich lebenslang schwertun, anhaltende Beziehungen und tiefe Interessen zu entwickeln. Anhaltspunkte dafür tauchen, seitdem es auch bei Waldorfs eine wachsende Zahl von Kleinkinderkrippen gibt, schon in Waldorfkindergärten und Waldorfschulen vermehrt auf, soweit dort noch sensibel beobachtet wird.

Das Spiel- und Lernverhalten ist flüchtiger; die Persönlichkeit, so scheint es, steht auf wackeligem Grund, braucht deshalb viel Kompensation; es fehlt häufig an Durchhaltekraft und Konstanz. Und das kann den, der sich mit den Hintergründen und den Zusammenhängen der menschlichen Entwicklung beschäftigt hat, nicht verwundern. Rudolf Steiner schildert, wie viel von der geistigen Welt aus getan wird, damit ein zur Inkarnation schreitendes Kind seine leiblichen Eltern findet – und dann wird dieses vertrauensselige Wesen nur in Teilzeit in die Familie aufgenommen, weil die Gesellschaft und Wirtschaft die Strukturen des Erwerbs und der Beschäftigung nicht verändern wollen und die Familien unter Druck setzen!

Dabei fühlt ein Kleinkind sich nur wohl, wenn es, neben dem Seelischen und Geistigen, wo es Liebe braucht, die physische und ätherische (das heißt, die willenscharakterliche, Gewohnheiten prägende, lebensrhythmisch-atmosphärische) Umgebung antrifft, die es sich vorgeburtlich durch das Kommen zu seinen Eltern vorgenommen hat. Nur im Glücksfall kann das eine angestellte pädagogische Kraft in einer Einrichtung annähernd erfüllen.

Die Familien haben in der modernen Welt oftmals gelockerte eigene Bindungen. Ihre Not ist real, aber sie darf nicht an die Kleinsten weitergegeben werden! Wer die Eltern nicht umfassend aufklärt, weil er selber vom Krippenboom profitieren möchte, wie soll man den nennen?

Waldorfpädagogik beginnt mitnichten bei professionellen Erziehern und Lehrern, sondern sie wird aus Verständnis und Verantwortung, wo es nur geht, in den ersten Lebensjahren die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern stärken. Die frühkindliche Erziehung bis zum Ende des dritten Lebensjahrs gehört in die Familie!

Nur in Notfällen braucht es familienersetzende Maßnahmen. Macht man die institutionellen Kleinkinderkrippen zur Regeleinrichtung, womöglich ohne Alternativen von Nachbarschaftshilfen bis hin zu Tagesmüttern zu prüfen, kann man sich nicht auf Rudolf Steiner berufen. Man baut dann an einer »Erziehungskünstlichkeit« statt an einer »Erziehungskunst«. Vor allem aber: Man schadet dem Wohl der Kinder!