Leserbrief zu: »Wie inklusiv sind Waldorfschulen«, Maiausgabe 2012

Markus Bindel

Wie gut, dass in der »Erziehungskunst« von dem vielbesuchten Thementag in Kassel zur Frage »wie inklusiv ist die Waldorfschule« berichtet wurde. Trotz der sehr gerafften Zusammenfassung der vielseitigen Beiträge werden durch den Artikel viele wichtige Aspekte zu diesem bewegenden Thema sichtbar und es wird erlebbar, wie komplex die Fragestellungen sind.

Wenn aber dann in der kurzen Zusammenfassung formuliert wird, schon die Frage, ob man einem bestimmten Kind noch gerecht werde, impliziere die Trennung und sei der Beginn des defektologischen Blicks, so muss man doch aufhorchen. Ist hier nicht ein ganz wesentlicher Grundsatz unserer Pädagogik vergessen oder verwechselt? Die Frage, ob man einem bestimmten Kind gerecht wird, muss sich jeder Lehrer in jeder Klasse gegenüber jedem Kind tag-täglich stellen!

Jedes Kind, das »hochbegabte«, das »normalbegabte«, das »behinderte« braucht immer einen solchen Unterricht, der ihm als Individuum, mit allen seinen Fähigkeiten, absolut gerecht wird. Darauf zu blicken, ist nicht defektologisch, sondern individualisierend und ist die Grundvoraussetzung für jede pädagogische Arbeit, bei der das »Kind als Lehrmeister« angesehen wird. Es scheint mir wichtig, wenn man die positive Werteänderung, die in der Gesellschaft durch die Behindertenrechtskonvention vollzogen ist, umsetzen und unterstützen will, dabei das gesunde Urteil angesichts der neuen Fragestellungen nicht zu verlieren.