Wie Eurythmiefiguren die Temperamentenlehre ergänzen und erweitern

Dietmar Ferger

So sagt Rudolf Steiner 1923 während der Konferenzen für die angehenden Waldorflehrer (GA 300) über die Eurythmiefiguren, in denen die Charakterisierungen der Laute bildlich dargestellt werden.

Dass Laute einen in ihnen enthaltenen Charakter besitzen, kann unmittelbar daran erlebt werden, dass es keinerlei eurythmischer Vorkenntnisse bedarf, um den Unterschied beispielsweise zwischen »Gehen Sie wie ein K!« und »Gehen Sie wie ein W!« zu erkennen und zu erfühlen. Jeder Laut hat einen Charakter, der sehr komplex in den verschiedenen Wesensgliedern des Menschen wirkt. Ebenso wie es für die sprachliche Vermittlung von Gedanken essentiell ist, alle Laute zu beherrschen und aussprechen zu können, ist es für das Ich des Menschen essentiell, dass es sich der jeweiligen Situation entsprechend ausdrücken und frei entscheiden kann, ob es ihr beispielsweise mit einer »M-Reaktion«, einer »K-Reaktion« oder einer »B-Reaktion«, mit der Seelenhaltung eines »A« oder eines »I« begegnen will. Dazu müssen alle Charakterisierungen der Laute beherrscht und anwendbar sein. Wer unter diesem Gesichtspunkt sich selbst, Menschen im öffentlichen Leben oder in der direkten Umgebung beobachtet, kann leicht feststellen, dass nicht jeder alle Charaktere der Laute beherrscht und zum Ausdruck bringt, sondern dass viele oft in bestimmte Reaktionsmuster verfallen – sei es ein »in sich zurückziehendes B«, ein »selbstbewusstes K« oder ein »flüchtiges F« …

Dabei entziehen sich die Charaktere der Laute weitestgehend einer intellektuellen Beschreibung; sie sind komplex, dass sie in Worten kaum dargestellt, sondern nur künstlerisch oder meditativ erfasst werden können.

Rudolf Steiner hat in den Eurythmiefiguren diese Charaktere künstlerisch dargestellt. Dazu verwendet er vor allem die Sprache der Farben auf drei Ebenen, die den drei leiblichen Wesensgliedern physischer, Äther- und Astralleib entsprechen, auf Grundlage der eurythmischen Form. Da Steiner als Herausgeber von Goethes Farbenlehre ein tiefes Verständnis der Charakterisierungen und Wirkungen der Farben besaß, sind auch die sehr genauen Farbbeschreibungen als Hinweis zur Differenzierung zu betrachten – die Herausforderung in dem künstlerischen Verstehen der Eurythmiefiguren besteht u.a. darin, den Unterschied beispielsweise zwischen »leicht rot«, »schwach rot« und »schwachrötlich«, zwischen »gelbgrün« und »grünlich-gelb« zu erfassen – ein Unterschied, der nur künstlerisch beschrieben werden kann. Dabei entsprechen die Vokale einer Seelenhaltung, die vergleichsweise einfach zu erfassen ist, während die Konsonanten darstellen, mit welchen Strukturen der drei physischen Wesensglieder des Menschen das Ich der Welt begegnet.

Während Steiner mit der Temperamentenlehre auf bekannten Begrifflichkeiten aufbaut und diese weiter entwickelt, hat er mit den in den Eurythmiefiguren dargestellten Charakterisierungen der Laute eine umfassende, praxisnahe Methodik der Menschen- und Selbsterkenntnis geschaffen, die ein weit über die Temperamentenlehre hinausgehendes Feld der Differenzierung und des praktischen Übens ermöglicht. Begegnen Sie doch Ihrem Nachbarn, den sie kaum kennen, mal mit einer bewussten innerlichen »A« – Seelenhaltung, gehen Sie in das nächste Meeting mit einem bewussten innerlichen »I«, oder machen Sie sich bewusst, ob Sie auf die Provokation eines Jugendlichen mit einem »F«, einem »B« oder einem »K« reagieren wollen. Intuitiv können wir die Charakterisierungen der Laute ansatzweise erfassen – eine genauere Schulung, wie sie ausgeprägt sind und wie die physischen Wesensglieder sich darin verhalten, kann durch das künstlerische und meditative Studium der Eurythmiefiguren erlangt werden.

Auch in der Diskussion um die Prägung des Menschen durch die Sprache können die in den Eurythmiefiguren dargestellten Charakterisierungen interessante Ansätze geben – und auch Fragen stellen zur künstlerischen Weiterentwicklung. Wie könnten beispielsweise Eurythmiefiguren für Laute aus der Xhosa-Sprache aussehen? Welcher Charakter zeigt sich in ihnen? 

Zum Autor: Dietmar Ferger ist ehemaliger Waldorfschüler und jetzt Waldorf-Vater.

Literatur: D. Ferger: »Eurythmiefiguren für Pädagogik und Willensschulung«, Lörrach 2017