Beziehung und Erwartung
Im Abiturkurs zu Fontanes »Effi Briest« ergab sich die Frage, ob man sich verändern soll (und ob man es überhaupt könne), wenn der Partner das in wichtigen Punkten wünscht oder verlangt. Fast alle plädierten dafür, dass man einander so lieben solle, wie man sei, obwohl anhand von Beispielen eingeräumt wurde, der Partner könne sich auch verletzt und nicht ernstgenommen fühlen, wenn man ein bestimmtes Verhalten nicht ändert. Liebe erscheint hier als ein Willensimpuls, eine Entscheidung. Ihre tiefere Natur, ihre Treuekraft, zeigt sich offenbar erst im Konflikt, bei Missverständnissen und Widerständen, wenn man sich etwas anders wünscht und nach dem siebten Himmel die Mühen der irdischen Ebenen kommen. Instetten liebt Effi im engen Rahmen seiner seelischen Möglichkeiten und Wertvorstellungen, und Effi liebt aus der naiven Grenzenlosigkeit eines Selbstbildes heraus, in dem sie sich in der Gesellschaft verloren geht. In jeder Beziehung gibt es solch einen individuellen Erwartungshorizont, eine unbewusste Liste im Kopf, auf der steht, was der andere »leisten« muss, wenn es funktionieren soll.
Was man so anhand eines Romans aus dem 19. Jahrhundert durchspielen kann, was aber zentral für alle Liebesbeziehungen ist – diese Lebensrelevanz ist ja neben Formkriterien der Grund für die Resonanz literarischer Werke –, das gilt auch für den Lehrer und seine Klasse. Ich muss eine Beziehung zu ihr aufbauen und eine zum Stoff, im Fach Deutsch zur Sprache, ermöglichen, Zugänge schaffen zu unterschiedlichsten Textsorten. Das Maß des Gelingens steht und fällt mit dieser Beziehungsqualität. Im Idealfall stellt sich das Erlebnis ein: In der Literatur wird das eigene Menschsein verhandelt.
Tragisch wird das Verhältnis dann, wenn man nicht gut zurechtkommt mit der Herausforderung, eigene Konzepte beweglich zu halten, um nicht an der Klasse vorbei zu unterrichten. Das hat viel mit Wahrnehmen und aktiver Akzeptanz des Gegebenen zu tun und damit, wie ich ausgehend von der Beobachtung dessen, was in der Klasse lebt oder nicht lebt, Impulse in Worte kleide. Hier zeigt sich, ob meine professionelle Zuwendung auch freiheitsfähig ist: Betont die Art der Ansprache doch nur meine Rolle – oder ist sie echt, menschlich, spontan? Zum Erwartungshorizont in Ehen gehört etwa gern die Bitte: »Überrasch mich doch mal!« Hoffnungen dieser Art können ungewollt zu einem Gefühl von Druck bei dem derart Ermunterten führen – fraglich, ob sich Überraschungen dann noch ereignen.
Mit dem anderen pädagogisch umzugehen, kann, wenn es aus einer innerlich freien Haltung geschieht, als liebevoll erlebt und dankbar aufgenommen werden. Allzu oft operieren wir jedoch mit Subtexten, mit Stimmungen. Wir sind nicht wirklich ohne Erwartung. Zweifel entstehen: »Werde ich bedingungslos geliebt?« Auf der anderen Seite: »Kein Wink von mir hat ein Echo!« Klar, auch Deutschlehrer hoffen im Stillen, wenn sie zum Aufsatzstapel greifen, dass sie darin von einem radikal eigenständigen Gedanken überrascht werden, einer These, so steil wie die Eigernordwand und ebenso realistisch. Das hängt allerdings auch davon ab, ob ich eine Aufgabe so formuliere, dass man ganz aus dem (dadurch geweckten) Ich heraus antworten muss, um sie zu meistern.
Im Unterricht wirken nur scheinbar freilassende Hinweise oft kontraproduktiv. Manch ein Kind verkrampft, wird befangen. Es sei denn, ich greife etwas auf, was aus ihm selber kommt, wie ein Schatz, den man durch einen Spalt erblickt, ein keimhaftes Vermögen, das man an einer Stelle bemerkt hat. Nur ist man irgendwann auch berechtigt, zu sagen: »Du bist hier, willst also lernen. Tust du aber nichts dafür, nimmst du dich selber nicht ernst, und ich kann an nichts anknüpfen.«
Lassen sich Großmut und Effektivität auch verbinden?
Das Indirekte als die Sprache der Liebe – und der Kunst
Betrete ich eine neue Klasse, weiß ich nicht, was mich erwartet, und sie weiß es auch nicht. Ich orientiere mich an dem, was sich gemeinsam entwickelt, was webt zwischen ihr und mir, was mir auffällt, mich erstaunt. Davon mache ich die jeweils nächsten Gestaltungsschritte abhängig. Ich habe zwar einen Plan, aber was ich »will«, ist: nichts zu wollen, ist zunächst Offenheit. Dazu wird auch Fordern gehören und Führen, aber genauso Abgleichen, Innehalten, Nachfragen. Da spielen Rhythmen eine Rolle, Aufmerksamkeit für die Erscheinung des Kindes, Nuancen und Übergänge. Ist Liebe der Blick, der die Grenzen des Gegenübers sieht, Nöte oder Schwächen, und der daran rühren darf, dann wird dies im Lernkontext nur auf der Basis einer Grundakzeptanz resonieren. Alles Ideelle bewährt sich am konkreten Gegenüber: Die liebevolle Bejahung im Ganzen ist es, die auf eine nicht subtil bewertende, sondern ermöglichende indirekte Weise Vertrauen schafft. Auch in der »Schule der Beziehungen« ist entscheidend, ob ich ziehe – oder warte, bis sich der andere zu mir hingezogen fühlt. Ich kann mein Warten gestalten: Wie spreche ich Defizite an? Wann spreche ich Wünsche aus? Form, Häufigkeit, auch der Zeitpunkt – wie geht es dem Kind gerade, ist es offen für Rat, erhofft es ihn? – spielt bereits eine Rolle. Muss man als Schüler ständig Angst haben, man mache etwas falsch, man sei »nicht ganz richtig« – oder als (Lern-)Partner sowieso nicht der oder die Richtige –, zieht man sich zurück. Oder man kalkuliert und ist besorgt, zu gefallen.
Dass Liebe Freiheit braucht, hat sie mit der Kunst gemeinsam. Oder: Nur so kann Erziehung zu Kunst werden. Die direkte Botschaft und Absicht ist Sache von Parteiprogrammen oder Ratgeber-Bestsellern. Literatur lebt vom Durchscheinenden. Gute Bücher haben sogar oft Schwächen, sie haben ein Geheimnis – auch für ihre Schöpfer –, eine Vitalität, die wirkt und mich in Bann zieht. Es ist diese Erfahrung, aus der heraus sich eine Beziehung zum Gelesenen bildet. Deshalb wollen Dramen, Erzählungen und Gedichte liebevoll genau erschlossen und gedeutet werden, wie das eigene Leben und seine Erfahrungen: Wer bin ich? Was will ich? Was kann ich? Wie(so) funktioniert das – und jenes nicht? Gerade in der Oberstufe ist es wichtig, die soziale Dimension solcher Techniken und mehr noch Haltungen Texten und Wortlauten gegenüber zu vermitteln. Auf dem Lehrplan steht das Interpretieren und Erörtern, und das tun wir innerlich ständig. Nicht nur suche ich in der Pubertät meinen »Ort« und bin mit meiner Wirkung auf andere und den Geburtswehen der Individuation beschäftigt: Warum gucken die mich so an? Was will der andere mir sagen? Wie soll ich diese Geste deuten, wie jene Tat? Wurde das wirklich über mich verbreitet? Auch als Lehrer muss ich die kleinen Zeichen interpretieren lernen, die Blicke und Gesten, das Schweigen und das Schwatzen, und unter Umständen eigene Vorstellungen opfern und neu anpassen. Bei Konflikten und dem Austausch von Argumenten wiederum helfen Fragen wie: Habe ich erfasst, worum es dem anderen geht? Stürze ich mich auf das Wörtliche oder bedenke ich auch den Kontext einer Äußerung? Habe ich Angst, Eigenes zu revidieren? Den Drang, etwas durchzuziehen?
Die Ehrfurcht vor einem Text als einem Gegenüber, einem Anderen, beginnt beim ersten Lesen und Begegnen: Es gilt, jedes Komma ernst zu nehmen, Akzente zu würdigen, Fremdes nicht einfach umzuformulieren. Auch Literatur hat eine Seele, auch Textkörper tragen ein geistiges Wesen in sich, dem nicht Gewalt angetan werden darf, und es sind sie selbst, die bestimmen, wann etwas ein Übergriff ist und wann sie etwas aus sich heraus erlauben. Der Lehrer ist dabei Anwalt und Vermittler und weniger moralische Instanz. – So steckt in der Ausgangsfrage aus dem Abitur letztlich auch die an das eigene Selbstbild: Kann ich mich nur lieben, wenn ich mich verwandle – etwa mein Geschlecht? Ist es ein Irrtum, bin ich ein Fehler? Kann ich Worte nur lieben, wenn ich sie umändere? Wo ist es Empathie und wo Willkür? Wie werde ich gerecht? Sprache lässt immer Raum, mit ihr zu spielen, sie zu weiten und fortzuentwickeln. Sie kann vieles integrieren, nur ihr Wesen wird sie nicht verraten.
Fehler als Hinweise auf Fehlendes
Für Steiner war Ziel des Grammatikunterrichts, dass das Kind sich zum Bewusstsein bringe, was unbewusst in ihm wirke. Wichtiger als bloßes Berichtigen sei, einen feinen Sinn zu haben für die diversen Arten von Fehlern. Zwar lässt sich vom Fachlich-Lexikalischen nicht ohne Weiteres ein Bogen schlagen zur moralischen Dimension dieses so wunderbar mehrdeutigen Begriffs des »Fehlens«. Aber interessant ist es schon, was Steiner im Vortrag vom 25.10.1918 (GA 185) prognostiziert: Es würde »die schönste (…) soziale Eigenschaft (…) sein, wenn man gerade ein naturwissenschaftliches, objektives Interesse für Fehler anderer Menschen entwickelt, wenn (sie) einen (…) viel mehr interessieren, als dass man sie versucht zu kritisieren.« In Zukunft werde sich »der eine Mensch (…) mehr und mehr mit den Fehlern des andern Menschen liebevoll zu befassen haben«.
Hat das Fach Deutsch zunehmend eine soziale Aufgabe und ethische Implikation? Wieviel Unheil entstand gerade im letzten Jahr dadurch, dass man einander nur aus den eigenen Prämissen heraus zuhörte und gar nicht wahrnahm: Wo heraus spricht der andere, was ist seine Erfahrung, seine Wunde? Auf einer feineren Ebene kann ich sie immer spüren. Wie kindisch, wie kühl auch gingen wir stattdessen auf beiden Seiten miteinander um. Wir sind den Jugendlichen diese Selbstbefragung schuldig. Werden unsere Schlagworte den Phänomenen und Konflikten gerecht? Säen wir oft maßlose Furcht oder sind getrieben von Missionen? Alle wollen einander erziehen, jeder den jeweils Uninformierten. Wir gerieren uns als Märtyrer der Wahrheit oder ihre selbstgewissen Korrektoren. Gewiss, auch im Abitur werden Fakten geprüft und Irrtümer benannt: würde etwa »herausgearbeitet«, »Effi Briest« leugne den Klimawandel. Es gibt Fehlschlüsse, vor denen man andere, hier den armen Fontane, schützen muss. Indes geht es mehr um die offene Haltung im Ganzen, statt reflexhaft Urteile zu pflegen. Auch der von einem anderen Ort schaut, mag – manchmal rückblickend – Überraschendes zu sagen haben, wende ich mich ihm liebevoll zu – und spiegele ihm notfalls Übertreibungen.
Ausgrenzende Rhetorik und indirekte Stimmungsmache vergiften unser Sprechen, seelisches Interesse hebt es ins Menschliche. Die dummen Fehler rühren oft aus äußerem Ehrgeiz, die »klugen« (die uns für später stärken) werden aus Angst versäumt. Nur das Vertrauen in die individuelle Lernfähigkeit aller wirkt integrativ und kann Einseitigkeiten korrigieren: im Erdenleib, in Textkörpern, im sozialen Organismus. Anders gesagt: Alle können fehlen. Niemand darf.
Zum Autor: Andreas Laudert ist Oberstufenlehrer an der Freien Waldorfschule Lübeck.