In der »Allgemeinen Menschenkunde« sagt Steiner zu den Lehrern: »Hier in diesem Menschenwesen hast du mit deinem Tun eine Fortsetzung zu leisten für dasjenige, was höhere Wesen vor der Geburt getan haben.« Im »Heilpädagogischen Kurs« sagt er: »Du tust etwas, was die Götter sonst tun im Leben zwischen Tod und nächster Geburt.«
Also einmal: Anschluss an das Vorgeburtliche und das andere Mal: Hinwendung zum Nachtodlichen.
Von außen gesehen, exoterisch angeschaut, liegen hier zwei auseinandergehende Richtungen vor. Von innen, esoterisch gesehen, handelt es sich bei dem Vorgeburtlichen und dem Nachtodlichen um dieselbe geistige Welt.
Die Fortsetzung des Vorgeburtlichen können wir am kleinen Kind beobachten. Es hat am Anfang noch keinen Blick für die äußere Welt. Es bemerkt etwa die Behinderung an einem Menschen zunächst gar nicht, weil es ihn innerlich wahrnimmt. Es dauert einige Zeit, bis es lernt, die Welt von außen anzuschauen. Dabei verliert es sozusagen seine kindlich-paradiesische Unschuld. Seine Augen werden ihm aufgetan und es erwirbt mit der Entwicklung seines unterscheidenden, diskriminierenden Verstandes den urteilenden Blick, den wir alle haben.
Ein weiteres Beispiel für die natürliche Fortsetzung des Vorgeburtlichen: Die Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom wurde in einem Interview gefragt, wie sie es aufgenommen hat, als sie erfuhr, dass sie ein behindertes Kind zur Welt gebracht hat. Sie antwortete: »Wissen Sie, als man mir damals sagte: ›Sie haben ein mongoloides Kind‹, da wusste ich zuerst gar nichts damit anzufangen mit dem Wort ›mongoloid‹. Es war doch mein Kind.« Die Mutter sah zuerst ihr Kind. Sie war zunächst gar nicht fähig, es von außen zu betrachten. Sie lebte noch ganz in der vorgeburtlichen, innigen Beziehung, die während der Schwangerschaft entstanden war. Aus der Sicht der Geburtshelfer war ein Unglück geschehen, sie hatten ein behindertes Kind zur Welt gebracht, und sie wussten nicht, wie sie es der Mutter mitteilen sollten.
Wie kann ich die Abwehr ablegen?
Es gibt ein lesenswertes Buch über Inklusion. Der Verfasser ist Fredi Saal. Er war spastisch gelähmt und hat sich Zeit seines Lebens damit auseinandersetzen müssen, dass man ihn als Unglücksfall bemitleidet hat. Sein Buch hat den Titel: »Warum sollte ich jemand anderes sein wollen?« Darin schreibt er: »Nicht von ungefähr ist es so schwierig, für beide Behindertengruppen« (mit der einen Gruppe meint er die körperlich Behinderten und mit der anderen Gruppe die geistig Behinderten) »gemeinsame ›Beschützende Werkstätten‹ einzurichten. Welcher Widerstand von den Körperbehinderten ist da zu überwinden? So muss man beides verstehen lernen – die Abwehr des Unbehinderten gegenüber den Behinderten im Allgemeinen und die Abwehr des Körperbehinderten gegenüber den Geistigbehinderten im Besonderen.«
Der offene Blick des kleinen Kindes, der liebevolle Blick der Mutter auf ihr Neugeborenes und der Blick der sogenannten geistig behinderten Menschen ist in der Regel ohne diese Abwehr, ja ohne Distanz, also von Natur aus inklusiv.
In ihrem Blick wirkt noch das Vorgeburtliche nach. Der Verstand mischt sich nicht ein.
Mir geht es dagegen so wie Fredi Saal: Bei einigen Menschen bemerke ich zuerst die bizarren Bewegungen oder das auffällige Verhalten. Obgleich ich schon lange Heilpädagoge bin, habe ich immer noch eine äußere, exoterische Sichtweise. Meinen differenzierenden, distanzierenden Blick erlebe ich als eine Behinderung, wenn ich den Menschen wahrnehmen will, aber nur sein Äußeres sehe.
Die Anthroposophie hat mir geholfen, meinen Blick zu verändern und einen Teil meines subjektiven Mitleids in Einfühlungsvermögen zu verwandeln. Auch die
Seelenpflege-bedürftigen Menschen haben mir geholfen, einen Weg nach innen zu finden und zu gehen.
Der Mensch hinter der Erscheinung
Vor diesem Hintergrund ist Inklusion zunächst nur ein leeres Programm. Es muss mit Leben gefüllt werden, um Wirkung zu zeigen. Ich erfülle es mit Leben, wenn ich lerne, durch seine physische Erscheinung hindurch auf den Menschen selbst zu schauen. Ich kann das in der pädagogischen Konferenz üben, wenn sie darauf angelegt ist, einen Weg zu beschreiten von der äußeren Betrachtung des Kindes zu einem innigen Verständnis seines Schicksals. Einem Verständnis, das nicht bei mir bleibt, sondern sich so auswirkt, dass sich das Kind von mir verstanden fühlt. Bei diesem Übergang des Verstehens wird die esoterische Substanz gebildet, mit der das Programm der Inklusion erfüllt werden kann.
Auf das liebevolle Verständnis kommt es an. Der berühmte Autist Birger Sellin sagt von sich: »quatsch ist ich sei ein irrer ohne verstand ich bin ein irrer mit verstand was noch schlimmer ist«. Also auch er ist der Meinung, dass sein Verstand die Behinderung verstärkt.
Ein Ort, wo man geliebt wird
Birger Sellin wurde, nachdem er die Schule verlassen hatte, einige Jahre in einer eigenen Wohnung betreut – ganz im Sinne der Inklusion –, aber das wurde zu teuer. Er musste in ein Heim ziehen. Von dem Heim schreibt er: »der richtige platz ist hier, denn nirgends werde ich besser verstanden ich werde hier auch geliebt.« In diesen Worten wird das esoterische Zentrum der Inklusion benannt. Es geht darum, den richtigen Ort für den einzelnen Menschen zu finden, wenn er selber nicht dazu in der Lage ist, den Platz, an dem er verstanden und geliebt wird, zu finden.
Im zweiten Vortrag des »Pädagogischen Jugendkurses« sagt Steiner: »Die Waldorfschul-Pädagogik ist überhaupt kein pädagogisches System, sondern eine Kunst, um dasjenige, was da ist im Menschen, aufzuwecken … Erst müssen die Lehrer aufgeweckt werden, dann müssen die Lehrer wieder die Kinder und jungen Menschen aufwecken.«
Das inklusive Potenzial der Waldorfpädagogik schläft in uns. Es kann durch Selbsterkenntnis entdeckt und geweckt und durch Selbsterziehung ausgebildet werden.
Zum Autor: Heiner Prieß war 25 Jahre Lehrer an der Rudolf-Steiner-Schule für Seelenpflege-bedürftige Kinder in Kiel und Dozent am Rudolf Steiner Institut in Kassel.