Mir wurde aus Spanien folgende Geschichte erzählt: Mit ihrer jüngeren Schwester war ein fünfjähriges Mädchen auf eine Finca bei einer befreundeten Familie mit Kindern eingeladen. Das alte, ehrwürdige Gutshaus war mehrstöckig. In der großen Küche im Souterrain wurde von zahlreichen Bediensteten gekocht, ein Gärtner versorgte den weitläufigen Garten und lebte mit seinem Sohn in einem kleinen hüttenartigen Häuschen, in der Nähe des Gutshauses.
Das Mädchen schlenderte allein durch den Garten und kam zu der Hütte. Des Spanischen nicht mächtig, wurde sie vom Gärtner herbeigewinkt. Der Sohn des Gärtners, etwa gleich alt wie sie, schenkte ihr einen in bunt bedrucktes Papier eingewickelten Mandelkuchen, er schmeckte vorzüglich. Mit dem Jungen allein, verspürte das Mädchen den Wunsch nach einem weiteren Kuchen. Die eingewickelten Kuchen lagen in einer Schale, die auf einem Gartentisch stand. Plötzlich ergriff sie eine am Boden liegende Bambusstange und schlug auf den Jungen ein, der daraufhin weinend ins Haus lief. Dies war der Moment, einen weiteren Kuchen an sich zu nehmen. Angesichts des weinenden Jungen durchfuhr sie jedoch ein tiefer Schreck, verbunden mit der Erkenntnis: Das ist böse, was Du da getan hast. Von tiefer Scham ergriffen, lief sie in das Gutshaus zurück und verkroch sich unter einer Bank. Hier hat niemand von außen gesagt, was gut oder böse ist, im Rückblick auf ihr Handeln hat das Mädchen das Urteil gefällt, dass die begangene Tat böse war.
Gut und Böse im Mythos
Im Mythos und in den Religionen tritt die Frage nach Gut und Böse im Zusammenhang mit der Schöpfung des Menschen auf. So erzählt die Paradieseslegende in der Bibel, wie Adam von Gott das Gebot erhält, keine Früchte vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen.
Das Oberuferer Paradeisspiel setzt diese Erzählung dramatisch ins Bild. Nachdem Adam aus Evas Hand den verbotenen Apfel angenommen und hineingebissen hat, sagt er: »Oh, wie ist mein Gemüt verwandelt.« Von diesem Moment an ist er nicht mehr Teil des harmonischen Lebens im Paradies, in dem er die Schöpfung der Pflanzen und Tiere freudig entdeckt und benannt hatte. Er sieht sich plötzlich nackt, mit Eva allein und auf sich gestellt, durch den Engel Gabriel aus dem Paradies vertrieben und auf die Erde versetzt.
Wir können diesen Vorgang als ein Urbild der Erfahrung des Bösen verstehen. Eine ursprünglich vorhandene Einheit wird zerstört, es findet eine Abtrennung und Isolierung statt, ein Gebot wird gebrochen. Was ist die Folge davon?
Der Dichterphilosoph Friedrich Schiller interpretiert den Paradiesesmythos sogar so, dass Gott das Gebot ausgesprochen habe, damit es übertreten werde. Das scheint ein paradoxer Gedanke, denn Gebote oder Verbote werden ja gewöhnlich gerade ausgesprochen, um bestimmte Handlungen zu unterbinden. Gleichzeitig wird damit die Aufmerksamkeit auf das verbotene Gebiet gerichtet – man denke an die verschlossenen Türen in Märchen oder an die verbotene Frucht in der Paradieseslegende – und im Menschen ein Verlangen erweckt, nach dem, was ihm unerreichbar ist. Die Erfahrung des Bösen ist also mit dem Erleben von Grenzen verbunden. Werden diese übertreten, also Gebote missachtet, zieht das, wie der Sündenfall zeigt, die Vertreibung aus dem Paradies nach sich – ein Vorgang, der die Zerstörung einer ursprünglich einmal da gewesenen Einheit bedeutet.
Mani – das Böse als Teil der Schöpfung
Der Religionstifter Mani (216-276 n. Chr.) hat – anders als der Kirchenvater Augustinus, dessen Lehre heute noch für die katholische Kirche gilt – das Böse als ein Seiendes verstanden, das dem Guten gleichursprünglich gegenüber gestellt ist. Die Lehre Manis sieht das Böse als Teil der Schöpfung an, der durch die Einwirkung des Guten erlöst werden soll. Der Mensch ist ein Wesen, das zugleich aus lichten und finsteren Kräften entstanden ist und in dessen Verantwortung es steht, welchen Mächten er in seinem Inneren Raum gibt. Somit ist er ein Wesen, das den Schöpfungsprozess fortsetzt, indem es durch die Erlösung des Bösen etwas, das aus dem Gesamtzusammenhang herausgefallen ist, durch Integrieren heilen kann.
Ein Erlebnis im freien christlichen Religionsunterricht hat mich sehr beeindruckt. Einige Schüler der dritten Klassen kamen eines Tages auf mich zu und baten, dass ich doch einmal eine wirklich grausame Geschichte erzählen solle. Auf der Suche danach fand ich das Märchen »Die beiden Wanderer« der Gebrüder Grimm, ein grausames Märchen, das zum Schluss nach zahlreichen Abgründen dennoch zu einem positiven Ende führt. Es ist auffällig, dass der Schneider schreckliche Erlebnisse durchmachen muss, und dennoch keine Gefühle des Hasses oder der Vergeltung in sich aufkommen lässt. Nachdem ich die Geschichte erzählt hatte, ging ein Seufzer der Zufriedenheit durch den Klassenraum.
Im Bilde hatten die Schüler alles Unglück miterlebt und an der Lösung, die am Ende in dieser Geschichte beschrieben ist, empfinden können, dass Gut und Böse in der Welt in einem gerechten Sinn geordnet sind. Eine solche Erzählung kann als ein Experimentierfeld der Seele dienen und zugleich das moralische Empfinden der Kinder bilden, wobei man keine weitere Belehrung braucht. Es kommt dabei ganz besonders auf das Niveau und den geistigen Gehalt des Erzählstoffs an, der bei den Grimmschen Märchen oder auch im Alten Testament von nicht zu unterschätzender Wirkung ist.
Das Böse im 20. Jahrhundert
Das Bewusstsein für Gut und Böse erwacht bei manchen Kindern schon recht früh. In diesem Zusammenhang ist entscheidend, dass die Frage von Gut und Böse nicht aus der Verantwortung des Menschen wegdelegiert wird, wie es die Diskussionen um die Willensfreiheit teilweise nahe legen. Freilich gibt es unvorstellbar schreckliche Taten, die dazu führen, die Verantwortung ausschließlich einer anderen Instanz zuzuweisen. Die Ereignisse in den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus, den organisierten Stätten des Massenmords, legen dies nahe.
Der spanisch-französische Schriftsteller Jorge Semprun war als 20-Jähriger in Buchenwald inhaftiert. In einigen seiner Romane setzt er sich mit seinen Erfahrungen im Lager auseinander und richtet seine Kritik gegen jegliche Art des Vergessens und Verdrängens, denn sie verstoßen gegen die menschliche Würde. Seine Erinnerungsarbeit versteht Semprun als ein Erforschen der menschlichen Seele im Angesicht des Grauens. In einer der herausragenden Passagen seines Romans »Schreiben oder Leben« fasst er die Essenz seiner Erkenntnisse zusammen: »Das Wesentliche ist, dass es gelingt, die Augenfälligkeit des Grauens zu überwinden, um zu versuchen, das radikal Böse an der Wurzel zu packen. Denn das Grauen war nicht das Böse, war zumindest nicht sein Wesen. Es war nur sein Gewand, sein Schmuck, sein Prunk. Kurz, seine Erscheinungsform. Das Wesentliche … ist die Erfahrung des radikal Bösen …«
Sempruns Schlussfolgerung, die in ihrer Schlichtheit zugleich erschütternd und brisant ist, gibt dem Menschen eine unabweisbare Verantwortung, indem er das Unmenschliche als Teil seines Seins begreift: »Das Böse ist nicht das Unmenschliche, natürlich nicht … Oder es ist das Unmenschliche im Menschen … Die Unmenschlichkeit des Menschen als Lebensmöglichkeit, als persönliches Projekt … Als Freiheit … Es ist also lachhaft, sich dem Bösen entgegenzustellen, sich von ihm zu distanzieren, indem man sich einfach auf das Menschliche bezieht, auf die menschliche Gattung …
Das Böse ist einer der möglichen Entwürfe des Menschen … Der Freiheit, in der die Menschlichkeit und zugleich die Unmenschlichkeit des Menschen wurzeln …«
Die Neuzeit löst sich schrittweise von außermenschlichen Autoritäten. Humanität und Moralität werden immer weniger durch äußere Instanzen, wie Traditionen, gesellschaftliche Werte, religiöse Praxis, das heißt, von außen vermittelt, sondern werden immer mehr zu einer Frage, die an den einzelnen Menschen gerichtet ist.
Nun könnte angesichts der erschütternden Erfahrungen in unseren heutigen Lebensumständen der Gedanke, dass das Böse einer Erlösung entgegengeführt werden müsse, vielleicht zunächst unverständlich und fremd erscheinen. Wenn wir aber den eingangs skizzierten Gedanken hinzunehmen, dass es sich bei dem Bösen immer um eine Abspaltung, eine Absonderung und Distanzierung von einer Ganzheit handelt, dann liegt die schöpferische Möglichkeit des Menschen darin, das aus dem Zusammenhang Gefallene erneut in einen Zusammenhang zu stellen, für das Ganze zu schaffen und zu handeln. Christian Morgenstern hat den Prozess einer solchen Verwandlung der Welt in einem Gedicht beschrieben, das er für das Gesangbuch einer Gruppe junger Studenten verfasste.
Schon in der Anrede »Brüder« klingt an, dass die Erlösung des Bösen ein Akt der Gemeinschaft ist, an dem jeder, der den Ruf des Ideales hört, aufgerufen ist, mitzuwirken. »Allen Bruder« sein, scheint in unseren heutigen Lebensumständen eine kaum lebbare Utopie oder gar schockierende Provokation zu sein. Doch wenn das Böse nicht mehr als eine Kraft, die außerhalb des Menschen wirksam ist, verstanden wird, sondern als etwas im Menschen selbst Liegendes, so kann eine Überwindung des Bösen nur im und beim Menschen ansetzen. Angesichts der aktuellen Situation in Syrien und an anderen Orten der Welt kann man sich fragen, welche Folgen der Prozess der modernen Zivilisation für andere Kulturen mit sich bringt und wer die Verantwortung dafür trägt. Nach mehr als einhundert Jahren ist das Gedicht Christian Morgensterns immer noch hochaktuell, im Sinne einer Blicklenkung in die Zukunft.
»BRÜDER«
Lied für ein neues Gesangbuch studierender Jugend
»Brüder!« – Hört das Wort!
Soll’s ein Wort nur bleiben?
Soll’s nicht Früchte treiben
fort und fort?
Oft erscholl der Schwur!
Ward auch oft gehalten –
Doch in engem, alten
Sinne nur.
Oh, sein neuer Sinn!
Lernt ihn doch erkennen!
Lasst doch heiß ihn brennen
durch euch hin!
Allen Bruder sein!
Allen helfen, dienen!
Ist, seit ER erschienen,
Ziel allein!
Auch dem Bösewicht,
der uns widerstrebet!
Er auch war gewebet
einst aus Licht.
»Liebt das Böse – gut!«
lehren tiefe Seelen.
Lernt am Hasse stählen –
Liebesmut!
»Brüder!« – Hört das Wort!
Dass es Wahrheit werde –
und dereinst die Erde
Gottes Ort.
Zur Autorin: Dr. Christiane Haid leitet die Sektion für Schöne Wissenschaften am Goetheanum in Dornach und den Verlag am Goetheanum.
Literatur: Christine Gruwez: Zeitgenosse werden. Ein manichäischer Übungsweg, Dornach 2009 | Jorge Semprun: Schreiben oder Leben, Frankfurt 1994