Literatur kann den Menschen verändern

Erziehungskunst | »Was ist der Mensch?«, so lautet das Thema des Dramen-Projekts von waldorf100. – Was macht die Identität des Menschen in Zeiten von Mixed Reality und Überfremdungsangst aus?

Moritz Rinke | Das ist mit Abstand die spannendste, aber auch schwierigste Eingangsfrage, die mir je in einem Interview gestellt worden ist. Wenn ich wüsste, was der Mensch ist, würde ich vielleicht keine Dramen und Romane schreiben. Ich weiß ja nicht mal, wer ich selbst bin, woher soll ich da wissen, was der Mensch ist. Nicht mal Goethe wusste das, und wenn einer das hätte wissen können, dann er.

EK | Und die Mixed reality? Zumindest scheint das immer eines Ihrer Themenfelder zu sein?

MR | Auf dem Gebiet der Mixed Reality fühle ich mich allerdings schon sicherer. Allerdings frage ich mich, ob sie uns zum besseren, komplexeren Menschen macht oder ob das Gegenteil der Fall eintritt. Ich stehe der Digitalisierung nicht so sabbernd gegenüber, wie es beispielsweise der neue Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD ausdrückt, in dem das Wort Digitalisierung 93 Mal vorkommt. »Die digitalen Fähigkeiten als Schlüsselkompetenz aller Altersgruppen« sollen entwickelt werden, das Land soll zum »Digitalland« werden, heißt es darin. Es gibt jetzt sogar eine Staatsministerin für Digitales, immerhin scheint sie kompetent, ich bin mit ihr bei der Überwachungsmaschine Facebook befreundet (lacht).

Im Ernst: Ich finde es wirklich toll, wenn ich Termine im Bürgeramt online buchen kann und noch ein paar andere Dinge, – aber müssen wir jetzt gleich alles digitalisieren? Auch wenn die Anthroposophen vielleicht nicht so viel Serien schauen, möchte ich die englische Serie Black Mirror empfehlen, da kann man vielleicht erahnen, was der Mensch einmal sein könnte. Eine dystopische Folge von 2011 zeigt zum Beispiel Menschen, die ihre analogen Fähigkeiten völlig verloren haben und in der Liebe nur noch digitalen Systemen folgen. Das wurde 2011 gesendet und schon nach sieben Jahren scheint die Wirklichkeit die Dystopie eingeholt zu haben, wenn ich mir ansehe, wie schon der eigene Freundeskreis bei Tinder unterwegs ist. Eine andere Folge zeigt, wie ein Premierminister der Forderung von Entführern folgt und vor der Kamera Liebe mit einem Schwein macht, weil das Volk darüber online abgestimmt hat. Schon jetzt scheinen sich Politiker gar nicht im Klaren darüber zu sein, wie Digitalisierung die Fundamente der Gesellschaft schwächt und eine neue Logik politischer Debatten hervorgebracht hat. Ein twitternder Präsident – im Prinzip macht er im übertragenen Sinne ja schon ständig Liebe mit Schweinen – zerstört jede Form von Verhandlung, von Gespräch.

Tweets geben in ihrer Verkürzung populistische Steilvor­lagen, und das in einer Welt, die von Trump über Nordkorea bis zum Mittleren Osten und Putin ungeordneter und komplizierter scheint denn je.

EK | Welchen Beitrag kann Theater und Literatur heute zur Humanisierung des Menschen (noch) leisten?

MR | Sehr viel, hoffe ich. Theater und Literatur können Menschen zeigen, beschreiben und wiederum andere Menschen, also die Lesenden, Schauenden im Abstand auf durch Kunst entworfene Menschen und Lebensfragen blicken lassen. Oft ist es einfacher, über Figuren zu lachen, als über sich selbst. Ich kann Mitgefühl und Zärtlichkeit zum Beispiel für Tschechows Figuren entwickeln; weil ich von außen auf sie blicke. Ich kann die Mörder und verletzten Menschen bei Shakespeare oder Schiller besser verstehen, weil ich in ihre Herzen schauen kann, denn das muss ja gute Literatur tun: uns nicht nur in die schöne Tiefe blicken lassen, sondern auch in die zerstörerische. Dramatik öffnet Menschen, erzeugt Empathie. Wenn alle Menschen vielleicht etwas literarischer, das heißt, von allen Seiten auf die Welt schauen würden, dann würden sich die Kontrahenten auch vielleicht besser zuhören können, würden sich die Gegensätze vielleicht annähern. Und: Literatur kann Menschen als veränderbar darstellen. Wir können immer noch vieles ändern. Das hat mir anfangs an Obama gefallen, obwohl man vielleicht als amerikanischer Präsident bis Trump am wenigsten verändern konnte. Leider kann es nun Trump. Und wer hilft ihm dabei? Das Internet! Diese gottverlassene Twitterei.

EK | Die Literaturgeschichte zeigt, dass die Zeit der menschlichen Großcharaktere vorbei ist. Kleinstcharaktere treten in den Vordergrund. Wie würden Sie die Frage nach dem Menschsein heute darstellen?

MR | Da würde ich Ihnen widersprechen wollen, wir können immer noch groß denken und große Fragen stellen.

Natürlich ist die Welt kleinteiliger geworden, die Teufel lauern in allen Details, die Menschen haben sich immer mehr spezialisiert, alles scheint viel komplizierter und durch den Informationsüberfluss glaubt man auch nicht mehr, das Ganze wirklich fassen zu können, aber trotzdem kann man noch große Geschichten schreiben. Schillers »Räuber« waren ja auch nicht bei der Premiere in Mannheim gleich Weltliteratur.

EK | Was nahmen sie für Ihr Leben und Ihre Arbeit von der Waldorfschule mit?

MR | Ganz viel. Darüber würde ich gerne mal ausführlicher mit Ihnen sprechen. Über die wirklich großartigen Erfahrungen an der Waldorfschule und meine Vorbehalte. Ich empfinde aber großen Dank und habe gerade meinen Lehrern in Ottersberg viel zu verdanken. Herrn Blumenthal, meinem Deutschlehrer, meiner Englisch-Lehrerin Frau Albert, die kürzlich starb und die die Theatergruppe leitete, Peter Stühl, der mich in der Eibe, der Monatsschrift der Schule, schreiben ließ.

EK | Was hat Sie bewogen, an dem Dramen-Projekt von Waldorf100 mitzumachen?

MR | Ich habe mich mit Stefan Grosse vom Bund der Freien Waldorfschulen getroffen und mir hat auf Anhieb der Ansatz gefallen. Ein echtes Figurenstück, ein Menschenstück, kein Postdrama, keine Textfläche, kein dekonstruktivistisches

Irgendwas, sondern ein Theaterstück. Grosse und ich haben uns, glaube ich, während der Projektierung auch angefreundet, weil ich in ihm die besten Eigenschaften meiner Lehrer von früher wiederentdeckte. Ich fühle, dass es richtig ist, dieses Projekt zu unterstützen. Hoffentlich finden wir einen guten Preisträger.

Die Fragen stellten Ariane Eichenberg und Mathias Maurer