Macht Schule gesund oder krank?

Dirk Rohde

In letzter Zeit wird die Schullandschaft von einer alles dominierenden Test- und Abfragewelle erfasst, angetrieben von der zentralen Frage, welche zählbaren Ergebnisse die an den Schulen geleistete Arbeit erbringt. Auch die Waldorfschulen wollen dabei nicht abseits stehen. Sie erheben zum Beispiel regelmäßig den Anteil der erreichten Fachhochschulreife- und Abiturabschlüsse, ermitteln die Durchschnittsnoten und vergleichen ihre Ergebnisse mit denen der Staatsschulen.

Doch welche Kriterien gibt Rudolf Steiner selbst für einen erfolgreichen Waldorfschulunterricht an? Steiners pädagogischer Ansatz zielt zentral auf den gesunden Lebenslauf der Schüler. Der Pädagoge hat sein Handeln dahingehend zu überprüfen, ob es die Schüler gesund oder krank macht. Den nahe liegenden Einwand, dass ein Lehrer dann auch viel von Medizin verstehen müsse, gibt Steiner zu; und er ergänzt, die Lehrerbildung müsse eben solche Fähigkeiten vermitteln.

Über die Wirkungen der Pädagogik auf Gesundheit und Krankheit  spricht Steiner im Detail und macht erstaunlich exakte Aussagen über die zeitlichen Zusammenhänge in einer Biographie. Die seelischen Auswirkungen pädagogischer Handlungen beispielsweise im 5. Lebensjahr zeigten sich bereits im 8. Lebensjahr, die dazu gehörigen körperlichen aber erst zwischen dem 35. und 40. Lebensjahr. Steiner berücksichtigt durchaus, dass Krankheit und Gesundheit sehr vielschichtig und individuell sind, dass Kinder in sich ausgleichende Kräfte gegen Erziehungsschäden entwickeln und krankmachende Wirkungen von Erziehungsfehlern im Erwachsenenalter überwinden können.

Sein Anliegen ist es, prinzipiell gültige Leitgedanken zu entwickeln, die der Lehrkraft Orientierung geben, im richtigen Moment das Richtige zu tun. Dazu stellt er Bezüge zwischen konkreten Unterrichtsfehlern und konkreten Krankheiten her. Das rechtfertigt aber nicht den Umkehrschluss, konkrete Krankheitsfälle seien stets auf bestimmte Erziehungsfehler zurückzuführen.

Beispiele krankmachender Pädagogik

Exemplarisch sei hier auf folgende, von Steiner erforschte Beziehungen hingewiesen: Würde das kindliche Gedächtnis durch den Unterricht zu stark beansprucht, begännen Schüler, blass zu werden. Würde diese Tendenz fortgesetzt, stellten sich Angstzustände ein, und schließlich bliebe das Kind im Wachstum zurück.

Beanspruchte man das Gedächtnis dagegen zu wenig, würde die Hautfarbe des Kindes rötlicher, dann träten Wutanfälle auf, und schließlich würden Atmung und Blutzirkulation unregelmäßig. Überfordere man das Gedächtnis zwischen dem 7. und 14. Lebensjahr dadurch, dass zu vieles auswendig gelernt werden müsse, könnten zwischen dem 35. und 50. Lebensjahr Rheumatismus und Diabetes auftreten.

Zu frühes Lesenlernen (vor der Vollendung des 8. Lebensjahres) führe zu vielfältigen Formen der Sklerose, ebenso das Kausalitätsdenken im Geschichtsunterricht vor dem 11. Lebensjahr. Ein zu starkes Befehlen, Herumkommandieren der Lehrkraft im Unterricht verursache bei den Schülern eine Schwäche der Verdauungsorgane im späteren Lebensalter. Auch ein ungezügeltes Ausleben der Temperamentsanlagen der Lehrer wirke sich negativ aus: Eine zu starke Cholerik der Unterrichtenden könne bei den Schülern im Erwachsenenalter Stoffwechselkrankheiten wie Gicht und Rheuma hervorrufen, ein zu starkes Phlegma Nervosität, eine zu starke Melancholie Herzkrankheiten und eine zu starke Sanguinik mangelnde Vitalität und Lebensfreude.

Steiner stellt daher besondere Ansprüche an die Erzieher und Lehrer. Seine pädagogischen Überlegungen münden in die nachdrückliche Forderung, der Lehrer müsse an sich selbst arbeiten: »Ihr werdet nichts anderes wirken für die Kinder, als was aus Eurer Selbsterziehung hervorgeht« (GA 304a).

Gesund, um die Welt zu verändern

Aufgabe der Schule ist es nach Steiner, die Schüler so in das Leben zu stellen, dass sie in der Lage sind, in die jeweils gegebene Gesellschaft hineinzuwachsen und eine Aufgabe zu ergreifen, mit der sie sowohl sich als auch die Welt vorwärts bringen. Ziel ist die maximal mögliche Förderung einer gesunden individuellen Entwicklung, wodurch zugleich die globale Entwicklung optimal unterstützt wird.

Dies geschieht an Waldorfschulen zum Beispiel dadurch, dass die Lehrer ab dem 7. Schuljahr viele Unterrichtsinhalte expliziter an elementare wirtschaftliche und technische Prozesse anschließen, sodass auch für diese ein Verständnis eintritt. Das verstärkt die Sicherheit, mit der der Mensch sich in der Welt bewegt. Benutze man zum Beispiel eine Maschine, ohne im Prinzip zu verstehen, wie sie funktioniere, entstehe beim Menschen das Bedürfnis, sich zu betäuben.

Bei maximaler innerer Freiheit sollen die Schüler »mit ihrem Herzen Anteil nehmen an der (internationalen) Gesamt­zivilisation … Dadurch allein ist ja der Mensch ein wirklich Erzogener, dass er seinen Mitmenschen am besten nach seinen Kräften dienen kann« (GA 307).

Wie lässt sich die Wirksamkeit der Pädagogik überprüfen?

Wir kommen nicht darum herum, Steiners Maßstäbe an unsere eigene Arbeit anzulegen. Eine Prüfung der Waldorfpädagogik anhand der genannten Kriterien ist aber schwierig, und die dazu notwendigen, vergleichend-biographischen Untersuchungen sind zudem prinzipiell problematisch. Geht man von der Einzigartigkeit des Individuums aus, kann man einen Menschen eigentlich nicht mit einem anderen vergleichen, sondern ihn nur an einem ideellen Entwicklungsziel und an seinem eigenen Potenzial messen – das heißt, man muss fragen, inwiefern er seine positiven Möglichkeiten ausschöpfen und seiner Lebensaufgabe gerecht werden kann, und inwiefern nicht. Man kann aber nicht die Zeit des Erwachsenen zurückdrehen, ihn anders beschulen und dann schauen, wie sich seine Biographie alternativ entwickelt.

Eine wichtige biographische Langzeit-Studie stammt von Lewis Terman und seinen Nachfolgern. Martina Schmidt, Schulärztin an der Freien Waldorfschule Frankfurt, ist darauf in dieser Zeitschrift (April 2012) eingegangen. Die rund 1.500 erfassten Personen, um 1910 in den USA geboren, wurden in ihrem gesamten Lebenslauf wissenschaftlich begleitet. Nach 100 Jahren können die Forscher heute sagen, dass sich nur ein schulspezifischer Zusammenhang mit Sicherheit nachweisen lässt: Kinder, die vor dem 7. Lebensjahr eingeschult wurden, hatten mit signifikant erhöhter Wahrscheinlichkeit in ihrem gesamten Leben körperliche und/oder seelische Probleme und starben überdurchschnittlich früh. Alle anderen Umstände, die sich gesundheitlich positiv auswirken, gehen (zumindest auch) auf außerschulische Faktoren zurück, insbesondere auf die persönliche Lebenseinstellung der untersuchten Personen. So weit sind die waldorfschulspezifischen Untersuchungen noch nicht. Es gibt aber bereits ermutigende Ansätze, die zeigen, dass Steiners Aussagen durchaus ernst genommen und erforscht werden. Wie weit dies schon gelingen kann, zeigen die Aufsätze von Peter Loebell und Arndt Büssing et al. in »Absolventen von Waldorfschulen«.

Bei aller gebotenen Vorsicht kommt Loebell nach der Auswertung der von Heiner Barz und Dirk Randoll erfassten Daten sowie der Resultate verschiedener weiterer Studien zu dem Ergebnis, dass die Waldorfpädagogik in ihrer bisherigen Form den von Steiner prognostizierten positiven Einfluss auf die Schülerbiographien zumindest tendenziell zu haben scheint.

So kann Loebell darauf verweisen, dass die weit überwiegende Mehrzahl der befragten ehemaligen Waldorfschüler erfolgreich ihr Leben meistert, den dafür notwendigen Kompetenz-Erwerb ihrer Schulzeit zuschreibt und sich gesundheitlich nicht oder kaum beeinträchtigt fühlt. Körperliche Krankheiten treten bei Waldorfschülern allerdings genauso häufig auf wie bei Schülern staatlicher Schulen. Für Allergien gibt es sowohl Hinweise für ein häufigeres wie für

ein selteneres Auftreten, während psychosomatische Beschwerden relativ seltener zu sein scheinen.

Büssing et al. vertiefen den Gesundheitsaspekt, indem sie die Barz-Randoll-Daten mit Daten des Robert-Koch-Instituts vergleichen. Dabei stoßen sie auf eine Reihe von Schwierigkeiten, belastbare Aussagen zu erhalten und damit stichhaltige Schlussfolgerungen ziehen zu können. Sie finden »in vielen Fällen keine wesentlichen Unterschiede in der Häufigkeit des Auftretens bestimmter Erkrankungen zwischen ehemaligen Waldorfschülern« und der Vergleichsgruppe. Sie können nur vom Bluthochdruck sagen, dass er bei den Waldorfschülern deutlich seltener vorkommt.

Ganz neu erschienen ist nun die bisher umfangreichste Gesundheits-Studie zu Rudolf Steiners pädagogischem Erfolgskriterium. Sie wurde erstellt von mehreren Mitarbeitern der Berliner Charité, Peter Heusser von der Universität Witten/Herdecke und Christoph Hueck von der Freien Hochschule Stuttgart. Sie vermeidet viele Fehler früherer Studien und kann dadurch wissenschaftlich aussagekräftige Ergebnisse vorweisen. Auf den ersten Blick scheinen Waldorfschüler eine etwas bessere gesundheitliche Verfassung zu haben. Jedoch zeigt sich bei Berücksichtigung aller für die Gesundheit relevanten Einflussfaktoren, dass die Häufigkeit der meisten Krankheiten ähnlich hoch ist und bei Waldorfschülern ebenso viel oder wenig mit der Pädagogik zu tun hat wie bei der Vergleichsgruppe. Nur Arthritis, Heuschnupfen und Klagen über einige aktuelle gesundheitliche Beschwerden (wie diverse Schmerzarten und Schlaflosigkeit) kommen bei Waldorfschülern seltener vor. Sie haben auch günstigere Körpergewichtswerte und waren im Jahr vor der Befragung seltener im Krankenhaus. Allerdings: diese »Ergebnisse müssen mit Vorsicht interpretiert werden, da diese Analyse explorativ war, mit Vorannahmen durchgeführt wurde und übrigbleibende Störfaktoren nicht ausgeschlossen werden können«.

Wo stehen wir heute?

Einhellige Meinung ist, dass die Aussagen Steiners hoch interessant sind und gründlicher erforscht werden sollten. Vielleicht lässt sich doch nachweisen, dass Waldorfschüler tatsächlich tendenziell gesünder sind als eine in jeder Hinsicht vergleichbare Bevölkerungsgruppe. Aber es wäre auch wichtig, herauszufinden, ob die bisherigen Ergebnisse zutreffen und keine nennenswerten Unterschiede zu finden sind. Wäre letzteres der Fall, könnte dies mehrere Gründe haben. Steiner würde deshalb nicht unbedingt widerlegt. Da sich die gesundheitliche Situation in vielen Ländern in den letzten 100 Jahren insgesamt deutlich positiv entwickelt hat, könnte es sein, dass sich die gesuchten Unterschiede nur mit großer Mühe finden lassen.

Denkbar wäre auch, dass in den Waldorfschulen nicht gründlich genug nach Steiners Ratschlägen unterrichtet wird. Er hat es ja selbst vorgemacht: Einen von Ärzten und Lehrern pädagogisch aufgegebenen hydrocephalen Jungen hat er als Hauslehrer so durchdacht und fundiert unterrichtet, dass dieser das Gymnasium erfolgreich abschließen und anschließend Arzt werden konnte. Dieses von Steiner gegebene Beispiel sollte uns Mut machen, an seine ursprüng­lichen Intentionen anzuknüpfen und uns nachdrücklich für die Vertiefung der Waldorfpädagogik einzusetzen.

Zum Autor: Dr. Dirk Rohde ist Dozent für Waldorfpädagogik und Oberstufenlehrer für Biologie und Chemie an der Freien Waldorfschule Marburg

Literatur:

Alle Angaben Rudolf Steiners nach der Gesamtausgabe (GA) des Rudolf-Steiner-Verlages Dornach/Schweiz: Erziehungskunst, Methodisch-Didaktisches, GA 294; Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung, GA 302; Anregungen zur innerlichen Durchdringung des Lehr- und Erzieherberufes, GA 302a; Die gesunde Entwickelung des Menschenwesens GA 303; Anthroposophische Menschenkunde und Pädagogik, GA 304a; Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis, GA 306; Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung, GA 307; Die Erziehung des Kindes, Die Methodik des Lehrens, GA 308; Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen, GA 309; H. Barz, D. Randoll: Absolventen von Waldorfschulen, Wiesbaden 2007; H. F. Fischer et al.: The Effect of Attending Steiner Schools during Childhood on Health in Adulthood: A Multicentre Cross-Sectional Study; PLOS ONE, September 2013 Vol. 8 Issue 9; H. Friedman, L. Martin: Die Long-Life Formel, Weinheim und Basel 2012