Ausgabe 03/24

Märchen-Mysterien

Ute Hallaschka

Doch zugute kommt es uns allen, was sich als Weisheitsschatz und Erlebnisweise in den Märchen ausdrückt. Was das Buch so außergewöhnlich macht, ist zweifacher Art. Der Autor nimmt sich selbst so weit zurück in seinem Werk, dass gerade dadurch die Bilder umso vitaler und lebendiger sprechen: «Es bedarf beim Blick auf die Märchen eines inneren Verzichts auf eine bestimmte Perspektive, sogar auf einen originellen Ansatz. Je mehr wir unsere Meinungen und Vorstellungen zurücknehmen, desto deutlicher beginnen die Märchen selbst zu sprechen.», heißt es in der Einleitung.
Der Autor hat zwei Jahre lang Grimmsche Märchen mit einem Marionettentheater aufgeführt; seither ist er als Klassenlehrer an Waldorfschulen tätig, zudem ist er Begründer des Waldorf-Ideen-Pools, (www.waldorf-ideen-pool.de).
Einerseits leben wir inzwischen in unserer Zivilisation vollständig in Bildinhalten, andererseits können wir viele Bilder aus gutem Grund nicht mehr für wahr halten. Wie also glauben an das, was die Märchen erzählen? Marcus Kraneburg betreibt weder Interpretation noch Exegese, er gibt uns Anregungen uns zurechtzufinden, auf der Reise ins Innere der Bildwelten – das ist die eigene Seele. In 15 ausgewählten Märchen werden Qualitäten in Dichte, Konzentration und Leichtigkeit erarbeitet – welch ein Vergnügen und welche Offenbarung.
Wie heimlich-unheimlich unsere Seelenwelt bis ins Märchenhafte längst von der Industrie bearbeitet und geformt wird, dafür ist Schneewittchen ein gutes Beispiel. Wer weiß noch, dass Schneewittchen – anders als Dornröschen – keineswegs vom Prinzen wachgeküsst wird? Letzteres suggeriert Disney, doch es sind in Wirklichkeit die stolpernden Diener, die den Sarg tragen und so dafür sorgen, dass der vergiftete Apfelgrütz aus dem Hals springt. Hier wird wie in einem inneren Hausputz das imaginative Leben gepflegt. Bis zur aktuellen Frage der Geschlechtlichkeit:
«Hätte nicht bei Rapunzel zum Beispiel auch eine Prinzessin am Barte des Jünglings den Turm heraufsteigen können, um ihn zu befreien? Auf den ersten Blick erscheint uns dies vielleicht als eine durchaus phantasievolle Variation, doch seine okkulte Bedeutung würde das Märchen dafür vollständig einbüßen. Märchen beschreiben reine Seelenprozesse. In der Wahl der Geschlechter charakterisiert es nicht den Mann oder die Frau, sondern weist mit dem Männlich-Weiblichen auf ein übergeordnetes kosmisches Prinzip, welches in jedem Menschen lebt.»
Kraneburgs Buch zu lesen ist wie ein Urlaub im Ätherischen, am Strand der Seele.

Marcus Kraneburg: Grimmsche Märchen als Spiegel der Seele. Ein Arbeitsbuch für Eltern, Erzieher und Lehrer. Info3 Verlag, 2022, 184 Seiten.

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