Tierkunde als Seelenkunde

Johannes F. Brakel

Selbst ein totes Tier fordert eine Emotion – um wie viel mehr ein lebendiges! Ein Besuch mit Kindern im Zoo ist ein Rundgang durch die Gefühlswelt, die – von Begeisterung und Bewunderung über das Empfinden von Eleganz und Schönheit bis zu Empörung, Abscheu und Ekel – den ganzen Kreis der Empfindungsmöglichkeiten umfasst. Denn ein guter Zoo bietet wesentlich mehr als ein zoologisches Museum mit seinen Fellen und ausgestopften Tieren. Er lässt uns Tiere in Bewegung erleben.

Und Tiere in Bewegung verwandeln sich: die elegant, wie befrackt aussehenden Pinguine bewirken erst dann Anfälle von Heiterkeit oder Lachstürme, wenn sie sich mit ihren abgespreizten Armen vorsichtig und etwas tollpatschig einherwatschelnd bewegen.

Die massigen und an Land unbeholfen robbenden Seelöwen erstaunen durch die Eleganz und Wendigkeit ihrer zirkusartigen Schwimmkunststücke im Wasser. Selbst das fette und tonnenschwere, mit seiner Glatze und seinem Schnurrbart großväterlich wirkende Walross metamorphosiert sich in eine bestaunte Unterwasserprinzessin oder Balletttänzerin, sobald es sich in seinem Element bewegt und wir es dort durch die Scheiben einer modernen Anlage sehen können.

Der auf Fotos so gemütlich wirkende Eisbär verwandelt sich erst durch sein ungestümes Hin- und Herlaufen oder wenn er sich nahe dem Betrachter plötzlich zu seiner vollen Größe von fast drei Metern aufrichtet. Dann erst bemerken wir auch das gefährliche Raubtier in ihm.

Und die missmutigen Orang-Utans, die in kleinen Eisenkäfigen wie dumpfbackige Schwerverbrecher allein und einsam vor sich hin stieren, verwandeln sich in den weitläufigen Schauanlagen moderner Zoos in verspielte, intelligente und humoristische Kletterer, Leckereien-Angler und Wasserschöpfer, die oft ein großes Publikum unterhalten. Doch selbst ein Zoo zeigt noch nicht das ganze Tier. Charakteristischerweise tritt erst bei den Jugendlichen, wenn sie ihr persönliches Seelenleben entwickeln, ein gewisses, kaum formulierbares Unbehagen im Zoo auf, das in Einzelfällen bis zur Verweigerung führen kann. Was fehlt?

»Das soll ein Sattelstorch sein?«

Bevor ich nach dem Studium nach Ruanda ging, besuchte ich regelmäßig den Zoo, um mich mit den afrikanischen Tieren vertraut zu machen. Außer den Vögeln waren es natürlich die großen Savannentiere, die Elefanten, Flusspferde und Giraffen, die ich zeichnete und daher gut kannte – oder meinte, gut zu kennen. Auf der ersten Fahrt von Arusha nach Nairobi durch die Massai-Mara-Steppe war ich erschüttert. Durch die im Abendrot aufglühende Savanne schwebte wie in Zeitlupe ein Schwarm langbeiniger und langhalsiger Wesen. Sie ähnelten im ersten Augenblick mehr einer Choreographie flügelschlagender Engel als den flüchtenden Massai-Giraffen, als die ich sie dann mit einiger Verzögerung erkannte.

Und umgekehrt: In Uganda fand ich einmal nach langem Anpirschen in einer einsamen Salzpfanne des Queen-Elizabeth-Nationalparks den ersten Sattelstorch, der dort in der flimmernden Mittagshitze erhaben stand. Er war noch immer weit entfernt und selbst im Fernglas nur schwach erkennbar. Die gelbrote Farbe seines gewaltigen Schnabels war nur andeutungsweise zu sehen. Trotzdem war seine gerade, aufrechte und würdevolle Gestalt in der endlosen Weite der flachen, staubigen Pfanne ein eindrucksvolles Erlebnis. Jahre später stand ich dann in einem deutschen Vogelpark nur einen Meter vor einem solchen Sattelstorch: durchaus interessant, viel besser und genauer zu sehen, aber als Erlebnis nicht vergleichbar. Das soll ein Sattelstorch sein?

Ein Tier, das sich in seiner natürlichen Umgebung bewegt, ist etwas anderes, ist mehr als sein mess-, wieg- und zeichenbarer Körper. Licht, Farben, das Rauschen des Windes in den Ästen, das Wiegen und Wogen der Pflanzenwelt – darin äußert sich in ausgebreiteter Form das Seelenleben eines Tieres ebenso, wie es sich in zentrierter Form nur im Körper des Tieres zeigt. Anders gesagt: ein Tier ist zusammengezogene konzentrierte Umgebung. Und umgekehrt: Das Tier strahlt seine eigene Seelenwelt in die Umgebung ab, wo sie für uns wahrnehmbar wird. Denn eine Landschaft, in der Schmetterlinge und Vögel fliegen, ist eine andere als ohne diese. Doch das können erst Jugendliche mit ihrer individualisierten seelischen Wahrnehmung bemerken, ansatzweise und unsicher und meist nicht genauer beschreibbar. Manchmal verschmelzen Tiere und Umgebung fast wieder in Eines, wie es Pablo Neruda in manchen seiner Gedichte in dem Band »Kunst der Vögel« schildert:

Grauralle

Pardirallus sanguinolentus

Die Ralle glitt durch den Schatten

bis zum Schatten der Ralle:

Sie pfiff und der Abend wurde zum Schatten,

gerufen von der Ralle,

die wie ein Schatten glitt,

die einen Pfiff von sich gab wie Wasser,

und man sah die Ralle, sich

zwischen dem Schatten und dem Pfiff hindurch schleichen:

Der Säbel der Ralle,

die im Schatten verschwommenen Federn,

etwas querte vor der Ralle vorbei,

schattige Feder oder schrilles Wasser,

der gekrümmte Blitzstrahl der Ralle

ein Schatten lief zum Gebüsch,

aus dem Gebüsch entschwand ein Schatten,

es pfiff der Schatten der Ralle.

Auch der Tintenfisch ist uns nicht fremd

Je kleiner das Kind ist – und je besser der Erwachsene sich seine Kindlichkeit erhalten oder neu erarbeitet hat –, desto ausschließlicher ist ein Tier als Seelenempfindung erfahrbar. Nur durch unser eigenes Seelenleben ist das Seelische des Tieres wahrnehmbar. Damit ist natürlich unser Wahrnehmungsvermögen begrenzt und die Gefahr besteht, dass wir statt des Tieres nur uns selbst wahrnehmen. Doch je differenzierter unser Seelenleben wird, je mehr Distanz wir auch zu uns selbst einnehmen können, desto genauer können wir das Tier erleben und für die Kinder schildern. Denn wenn wir etwas aus dem täglichen Leben eines Fuchses oder Igels erzählen, sollte alles Erzählte sich der Stimmung nach in dieses seelische Gesamtbild einfügen.

Das ist natürlich nicht einfach. Die Angaben Rudolf Steiners für die erste Tierkunde bieten hier Orientierung. Tintenfisch und Kuh sind extreme Lebensformen. Der Tintenfisch entspricht dem mit aller Aufmerksamkeit nach außen gerichteten »Sinnesmenschen«, der mit allen Erscheinungen ununterbrochen mit geht und sein eigenes, eigentlich inneres Seelenleben auf der Oberfläche der Haut (oder auf der Zunge) trägt. Die Kuh entspricht dagegen dem völlig von der Außenwelt abgekehrten, sich nach innen wendenden »Stoffwechselmenschen«, den nichts auf der Welt stören und von seiner ruhigen Verdauungsarbeit abbringen kann. Beide sind uns nicht fremd, weil wir ihre Lebensprozesse in gemäßigter Form in uns tragen und in uns auffinden können. Auch der Löwe als Tier des rhythmischen Herz-Kreislauf-Lungen-Systems mit seiner alles bezwingenden Raubtiernatur ist uns als pathologische Extremform nicht unvertraut – auch wenn die ungeschützte Begegnung in freier Natur eine ganz und gar unvertraute und alles überwältigende Erfahrung ist.

Bereits in den Fabeln und »sinnigen« Geschichten der zweiten Klasse schildern wir Tiere in seelischen Bildern. Doch in der Tierkunde der vierten und fünften Klasse geht es darum, diesen seelischen Bildern mehr äußere Wirklichkeit, mehr Wissenswertes, manchmal auch Zahlen oder Rekorde einzugliedern. Die Betonung liegt hier aber auf eingliedern. Und »Eingliedern« bedeutet eben auch, dass alles miteinander in Beziehung steht – vernetzt ist, wie man heute sagt. Denn eine nur lexikalische, beziehungslose Aufzählung von sensationellen Maximalwerten, wie sie leider häufig ist, führt zwar vielleicht zu kurzfristigem intellektuellem Interesse – ein innerer Bezug wird dadurch aber nicht hergestellt. Die Tierwelt, die Welt wird uninteressant. Das Kind wendet sich von ihr ab und spannenderen Parallelwelten zu. Eine gute Tierkunde stellt deshalb an den Erwachsenen erhebliche Anforderungen. Aber das sollte niemanden abschrecken.

Eine liebevolle Bemühung im geschilderten Sinn ist auf jeden Fall ein guter Beginn. Und alles andere ist Übung. Und was die Auseinandersetzung mit der Tierwelt auch für den sich bemühenden Erwachsenen bedeuten kann, selbst wenn er in vielerlei andersartige und aufreibende Verpflichtungen eingezwängt ist, schildert zum Abschluss seines Gedichtzyklus der von mannigfachen politischen Unerfreulichkeiten geplagte Pablo Neruda:

Zum Autor: Johannes F. Brakel ist Lehrer für Biologie, Chemie und Erdkunde an der Rudolf Steiner Schule Hamburg-Wandsbek.

Literatur: Pablo Neruda: Arte de Pájaros/ Art of Birds, Barcelona 2002, Übersetzung: J. B.