Was heißt links?

Henning Köhler

Sehr geehrter Herr Becker,

Ihr Versuch, auf den Punkt zu bringen, was »linke« und »rechte« Grundpositionen unterscheidet, lässt sehr zu wünschen übrig. Richtig ist, dass sich Linke traditionell für einen Umbau der Gesellschaft zu mehr sozialer Gerechtigkeit einsetzen. Dann aber packen Sie ein Bündel Klischees aus, die zwar für gewisse verflachte, pervertierte Formen linken Denkens gelten, nicht jedoch für den Kern des historischen Projekts der Linken. Sie behaupten, Linke zögen die gesellschaftliche Fürsorge der individuellen Verantwortung vor. So einfach ist das aber nicht. Wer die Geschichte der Linken kennt und aktuelle linke Debatten verfolgt, muss zu einer anderen Einschätzung gelangen. Der Themenkomplex Freiheit / Selbstverantwortung / Verantwortung für andere / Verantwortungsethik als Herzstück des Gesellschaftsvertrags wird nirgends so differenziert und so kontrovers diskutiert wie in linken Kreisen, teils auf einem beachtlichen philosophischen Niveau. Die Erkenntnis, dass Selbstverantwortung und soziale Verantwortung, Freiheit und Solidarität keine Gegensätze darstellen, sondern einander bedingen, wuchs historisch in der Linken. Wie übrigens auch die Leidenschaft für Freiheit als solche. Das Lamento, gesellschaftliche Fürsorge gehe auf Kosten der individuellen Freiheit und lähme die Selbstverantwortung, gehört zum rechtskonservativ-neoliberalen Standard-Repertoire, darüber belehrt uns jede TV-Talkshow. Unter »individueller Freiheit« verstehen diese Leute den Ego-Trip, der unsere Welt ins Verderben zu stürzen droht, und wenn sie »Selbstverantwortung« sagen, verbirgt sich dahinter meist das Urteil, Verlierer seien selber schuld.

Die Behauptung, in einem rechten Staat gäbe es »idealerweise« keine Kultusbehörde, sondern nur noch freie, selbstverwaltete Schulen und Kirchen (und womöglich auch eine freie Presse, freie Gerichte, freie Lehre an den Universitäten?), ist abenteuerlich. Verfolgen Sie nicht, was rechtslastige Regierungen in Europa gerade anrichten?  Man komme durch Übertreibung einer konservativen Politik nicht zum Nationalsozialismus? Na ja, aber Vorsicht ist schon geboten. Fließende Übergänge zum Faschismus sind unübersehbar.  Die nationalkonservative Neue Rechte Europas identifiziert sich nicht offen mit dem braunen Sumpf, watet aber schon mal gern ein bisschen in ihm herum. Für ein weitaus größeres Übel hält sie das ganze Freiheits- und Gerechtigkeitsgedöns der Linken.

Historisch stand das rechte Lager für Elitenherrschaft, extreme soziale Ungleichheit, Verachtung der Schwachen, barbarische Justiz und Knebelung des freien Geistes. Dagegen erhob sich die Linke. Alles, was wir heute an individuellen Freiheiten, demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten und solidargemeinschaftlichen Errungenschaften genießen, haben Linke erkämpft. Sie standen damit in der Tradition gegenkirchlicher Strömungen des Christentums, aufständischer Bauern und bürgerlicher Revolutionäre. Auch Letztere saßen schon links im Parlament.

Die Tragödie der Linken im 20. Jahrhundert bestand darin, dass alles, was linkes Denken essenziell ausmacht, von nominellen Linken verraten wurde. Der Stalinismus erfüllte in allen oben aufgezählten Punkten die rechte Agenda. Insofern müsste nicht Hitler ganz links im Parlament sitzen, wie Sie, Herr Becker, meinen, sondern Stalin neben Hitler ganz rechts. Linkes Denken pauschal als freiheitsfeindlich abzuqualifizieren, verrät mangelnde Kenntnis des zu beurteilenden Gegenstandes. Ich könnte Ihnen Dutzende bedeutender linker Theoretiker aufzählen, die glühend für individuelle Freiheitsrechte eintraten und den Rückzug des Staates forderten, darunter übrigens nicht wenige spirituell orientierte Persönlichkeiten.

Viele Linke wollen das Schulwesen aus staatlicher Bevormundung und wirtschaftlichen Abhängigkeiten befreien, allerdings unter der Bedingung, allen Kindern, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, den Besuch einer freien Schule zu ermöglichen. Letzteres finden rechte Bildungspolitiker nicht so wichtig. Überhaupt bereitet ihnen die Vorstellung eines wahrhaft freien Bildungswesen Unbehagen. Sie beargwöhnen emanzipatorische Bestrebungen jedweder Art, liebäugeln mit einem neuen Autoritarismus. Die Rechte präferiert Sicherheit, nicht Freiheit. Rechte, nicht linke Politiker führen wie ein Mantra das Wort vom Gewaltmonopol des Staates im Munde. Ich weiß, es gibt vortreffliche Wertkonservative, die anders denken. Interessant zu beobachten, dass sie von undogmatischen Linken mehr gewürdigt werden als von Leuten aus dem eigenen Stall. Im rechts-bildungsbürgerlichen Milieu schätzt man das Prinzip der Bestenauslese. Exzellenzkindergärten, Eliteschulen und Elite-Universitäten sollen »unser Land« nach vorn bringen. Vom äußersten rechten Rand, aber auch von einigen vorgeblich gemäßigten Rechten, kommt indes die Forderung, schon den Schulkindern Patriotismus einzuimpfen.

Dass viele Linke mit ihren egalitär-staatdirigistischen Vorstellungen weit von den ursprünglichen linken Idealen abgedriftet sind, steht außer Frage. Daraus kann man aber nicht folgern, das Ideal des starken Staates sei bei Rechten weniger virulent. Die »illiberale Demokratie«, wie sie den gegenwärtigen Machthabern in Ungarn, Polen, Österreich, Italien, nicht zu vergessen Russland vorschwebt und auch bei uns immer mehr Fürsprecher findet, ist ein frontal gegen die geistige Freiheit gerichtetes Konzept.

Nach Lage der Dinge können wir uns als Waldorfschulbewegung in Bezug auf die soziale Frage keine »Neutralität« mehr erlauben. Gemeinsam mit allen humanistischen, demokratischen und freiheitlichen Kräften dem Rechtsextremismus und seinen scheinbar moderaten Zuträgern entgegenzutreten, ist das Gebot der Stunde. Sie haben Recht, Herr Becker: Zum Ausschluss von Kindern darf das nicht führen. Wohl aber sollten Eltern oder Lehrer, die hasserfülltes Gedankengut in unsere Schulen tragen, sehr deutlich zu spüren bekommen, dass sie auf Granit beißen.

Wenn jemand mich bitten würde, in einem Satz zu umreißen, was »Linkssein« als Haltung bedeutet, wäre mein Vorschlag der folgende: Links positioniert sich, wer energisch für die Schwachen, Erniedrigten und Benachteiligten Partei ergreift und den Traum von einer gewaltlosen, herrschaftsfreien Gesellschaft nicht aufgibt. Ach, übrigens: Links ist nicht gleich Marxismus.

Mit freundlichen Grüßen, Henning Köhler