Erziehungskunst | Frau Albrecht, der Erziehungsexperte Jesper Juul sagte vor kurzem: Wenn es Probleme mit den Kindern gibt, dann muss man erst einmal mit den Eltern reden. Sie sagen, es sei sinnlos, Eltern erziehen zu wollen.
Beatrix Albrecht | Da muss man sicher differenzieren. Aber es gibt immer mehr Eltern, mit denen man nicht reden, die man nicht erreichen kann oder die jedes Angebot verweigern. Das hat viele Gründe. Oft sind sie mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert, Alkohol oder Drogen sind mit im Spiel, familiäre Gewalt, Missbrauch, psychische Erkrankungen, Scheidungskrisen, aber auch zunehmend finanzielle Probleme. 60 Prozent unserer Eltern sind Hartz IV-Empfänger, 70 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Sie sind vielfach nicht in der Lage, ihren Alltag zu strukturieren und für ihre Kinder Empathie und Verantwortungsgefühl aufzubringen.
EZ | Warum setzen Sie so wenig Vertrauen in die Eltern?
BA | Das ist keine Vertrauensfrage. Ich meine nur, dass wir von schulischer Seite den Eltern nichts aufzwingen können, auch wenn es noch so gut gemeint ist. Es muss umgekehrt laufen: Wir können ein Angebot machen und freundlich einladen. Mehr nicht. Nur in Fällen, wo die Kinder verwahrlosen, intervenieren wir. Wir bieten ein tägliches Elterncafé, regelmäßige Eltern- und Sprachkurse, es gibt eine Bildungslotsin, die versucht, Kontakt zu den Familien zu halten. Das Vertrauen entwickelt sich dann langsam. Andererseits haben unsere Sozialarbeiter viel zu tun, wir kooperieren mit den Jugendämtern und anderen sozialen Einrichtungen. Denn in nicht wenigen Fällen müssen wir die Kinder vor ihren Eltern schützen. Es ist erschütternd, wenn ein Neunjähriger zu mir kommt und sagt, er wolle nicht mehr zu Hause wohnen.
EZ | Wie setzen Sie ihr pädagogisches Motto, dass kein Kind zurückbleiben darf, in der Praxis um?
BA | Es gibt in den Klassen 1 und 2, wie in ganz Niedersachsen, keine Noten, es gibt keine Hausaufgaben. Wir haben als teiloffene Ganztagsschule bis 15 Uhr mit Betreuung bis 17 Uhr ein nachhaltiges Nachmittagsangebot mit Schwerpunkt Musik, Kunst, Sport und Gartenbau. Wir haben eine Patenschaft mit Hannover 96 und einen eigenen Garten in der Kolonie. Vorschulisch fördern wir die Kinder in Deutsch als Zweitsprache.
EZ | Viele bildungsnahe Eltern meldeten ihre Kinder ab. Das Blatt scheint sich jetzt zu wenden. Es kommen wieder mehr Kinder aus bildungsbürgerlichen Elternhäusern, die in ihrem Stadtteil wohnen. Wie ist diese Trendwende zu erklären?
BA | Es hat sich herumgesprochen, dass wir uns den Problemen stellen und dass wir konkret und sofort etwas dagegen unternehmen – zum Beispiel gegen Gewalt. Man kann überspitzt sagen: Mit Migranten kann man Werbung machen, wenn die Integration gelingt und multikultureller Austausch stattfindet.
Das ist auch für bildungsnahe Elternhäuser attraktiv, die sich dafür entscheiden, dass ihr Kind multikulturelle Kompetenzen erwirbt und zum Beispiel Türkisch lernt. Man macht sich aber auch Feinde damit.
EZ | Wie sieht ihr Konzept der bilingualen Klassen aus?
BA | Die Einrichtung der »Bilis« geht auf den Wunsch einer Mutter zurück. Es unterrichten seit sechs Jahren zwei Lehrkräfte pro Klasse in Türkisch und Deutsch in wechselnden Fächern fünf Wochenstunden. Bisher fand dies in jeweils einer Klasse pro Jahrgang statt. Wegen der großen Nachfrage sind es jetzt zwei. Es ist geplant, einen reinen Herkunftssprachenunterricht in Arabisch und Türkisch anzubieten. Es stärkt das Selbstwertgefühl der türkischen Kinder enorm, wenn die Klasse im Viertel unterwegs ist und die deutschen Kinder türkisch sprechend einkaufen gehen. Darüber hinaus bieten wir islamischen Religionsunterricht an. Es gibt eine mehrsprachige Schülerzeitung und Bibliothek, sogar die Aushänge sind mehrsprachig. Inzwischen ist die Zahl derjenigen Schüler, die wir für das Gymnasium oder die Realschule empfehlen können, auf das Durchschnittsniveau gestiegen.
EZ | Wie reagierte die Schulbehörde und das Ministerium auf Ihre Initiative?
BA | Zunächst gab es große Bedenken, auch in Teilen der Politik und anderer Bildungsträger. Inzwischen bekommen wir zunehmend Zustimmung und Unterstützung. Heute dürfen wir uns sogar auf dem Stand des Niedersächsischen Kultusministeriums auf der Bildungsmesse »didacta« präsentieren. Zu unserem Projekt gehört auch die Zusammenarbeit mit den Erziehern im Ganztagesbereich. Durch die Verbindung der Ressourcen der Kommune und des Landes ergibt sich nicht nur ein finanzieller und personeller Synergieeffekt, sondern die pädagogische Qualität der Ganztagsbetreuung ist gestiegen. Und dabei sparen Land und Kommune.
EZ | Was ist ihr nächstes Ziel?
BA | Mein Wunsch ist, dass wir den Kindern mehr Zeit für ihre Entwicklung geben können, die hier unter erschwerten Umständen stattfindet. Das heißt, eine Grundschule bis zur 6. Klasse zu bekommen. Ich möchte, dass die Kinder zu uns kommen und gar nicht merken, dass sie in eine Schule gehen.
Die Fragen stellte Mathias Maurer