Masernimpfung heute: auch eine soziale Frage

Till Reckert

Säuglinge können erst ab dem 9.-11. Monat geimpft werden. Von ihren geimpften Müttern bekommen sie einen Nestschutz für drei bis vier Monate, sind also länger gefährdet als Säuglinge von früher selbst erkrankten Müttern.1

Zumeist hat man andere bereits mit Masern angesteckt, bevor man weiß, dass man Masern hat. Einen Schutz für Säuglinge erreicht man heute also nur, wenn Masernviren nicht mehr zirkulieren. Masernimpfungen schützen einen selbst und indirekt auch andere, die sich (noch) nicht impfen lassen können. Masernschutz ist daher auch ein gesamtgesellschaftliches Projekt, das weltweit verfolgt wird. Hieran knüpft das Masernschutzgesetz² an.

Im Folgenden stelle ich die Situation im heutigen Deutschland rund um Masern und Masernimpfung dar. Dies ist unabhängig von dem Masernschutzgesetz bedeutsam, insbesondere für Familien mit Kindern in waldorfpädagogischen Einrichtungen: In Baden-Württemberg konnte 2014-2018 bei den Einschulungsuntersuchungen vier- bis fünfjähriger Kinder in den Waldorfkindergärten bei circa 79 Prozent der Impfstatus ausgewertet werden. Von diesen Kindern waren in Waldorf­einrichtungen rund 68 Prozent wenigstens einmal und rund 57  Prozent zweimal gegen Masern geimpft. Zum Vergleich: In öffentlichen Kindergärten konnte bei 93 Prozent der Impfstatus ausgewertet werden und es waren rund 96 Prozent einmal und 90 Prozent zweimal geimpft.3

Masern: Das Krankheitsbild

Masern sind eine hochansteckende Tröpfcheninfektion. Sie werden übertragen fünf Tage vor bis vier Tage nach Beginn des Hautausschlags.4 Acht bis zwölf Tage nach der Ansteckung beginnen Symptome wie bei einem normalen fieberhaften Infekt und am zwölften bis 14. Tag können weiße Pünktchen in der Wangenschleimhaut gesehen werden. Jetzt erst kann man Masern vermuten. Dann kommt es zu einem zweiten Fieberanstieg bis über 41 Grad und es tritt, hinter den Ohren beginnend, der typische fleckförmig-zusammenfließende, verquollene Hautausschlag für drei bis vier Tage auf. Der Patient ist nun schwerkrank, lichtempfindlich, stark verschleimt und hustet heftig für etwa sieben Tage.5 Danach heilen die Masern zumeist komplett aus. Dabei schwächt sich das Immunsystem vorübergehend ab.

Masernkomplikationen

Zwischen 2008-2018 hatten laut den infektionsepidemiologischen Jahrbüchern des Robert-Koch-Institutes (www.rki.de) 94 Prozent der Masernkranken in Deutschland keine Komplikationen. Von den verbleibenden sechs Prozent der Patienten erlitten zu je ein bis drei Prozent eine Mittelohrentzündung, eine Lungenentzündung oder eine »andere Komplikation« und 0,2 Prozent eine Maserngehirnentzündung. Es starben in Deutschland in diesem Zeitraum bei über 10.000 Erkrankten drei Patienten akut an Masern: 2011 ein junger Mann, 2015 ein ungeimpftes, herzkrankes Kleinkind in Berlin und 2017 eine einmal geimpfte 37-jährige Mutter. Nach einer Maserninfektion im ersten bis zweiten Lebensjahr tritt bei mehr als einem von tausend Erkrankten eine subakut sklerosierende Panenzephalitis SSPE auf. Diese chronische Gehirnentzündung führt nach jahrelang voranschreitender Behinderung zum Tod. Das Statistische Bundesamt verzeichnete zwischen 2007 und 2015 29 Todesfälle durch SSPE in Deutschland. Schon bei Einführung der Masernimpfung in den 1960er Jahren war bekannt, dass insbesondere milde und frühe Masern­infektionen einer SSPE vorausgehen. Man hatte daher Sorge, dass eine künstlich gesetzte Impfinfektion SSPE verursachen könne. Darum wurden in vielen Ländern mit Einführung der Impfung ein SSPE-Register etabliert. Die hieraus verfügbare Literatur zum epidemiologischen Zusammenhang zwischen Masernimpfung und SSPE zeigt: In Ländern mit hoher Impfquote und folgendem deutlichen Rückgang der Masernzahlen gingen auch die SSPE-­Zahlen zeitlich um mehrere Jahre verzögert um über 90 Prozent zurück. Impfviren verursachten keine SSPE.6

Masernhäufigkeit in Deutschland

Schnelllebige Medien betonen derzeit in jedem ungeraden Jahr, dass Masern in Deutschland »viel häufiger als im letzten Jahr« vorkämen. Auf längere Sicht werden Masern in Deutschland aber seltener, vor allem bei Kindern vom zweiten bis zum neunten Lebensjahr. In der Vorimpfära bekamen vor allem Kinder dieses Alters Masern. Heute sind relativ gesehen eher Erwachsene, ältere Jugendliche und Säuglinge ungeschützt und damit betroffen. Die offizielle Statistik aller nach dem Infektionsschutzgesetz gemeldeten Erkrankten seit 2001 kann individuell konfiguriert über das Abfragewerkzeug SurvStat@RKI (https://survstat.rki.de) abgefragt werden. Die absolut meisten Säuglinge unter einem Jahr erkrankten seither  2015 (200), 2002 (156) und 2017 (121). Über die Hälfte der Erkrankten sind gegenwärtig volljährig. Unzureichend geschützte Jugendliche und Erwachsene (jünger als Jahrgang 1970) mit weniger als zwei Impfungen sollen sich zwar nachimpfen lassen, haben dies aber oft nicht im Bewusstsein. Säuglinge können nicht beliebig früh gegen Masern geimpft werden.

Die Masernimpfung

Die Masernimpfung ist eine Lebendimpfung mit abgeschwächten Masernviren und wird zusammen mit abgeschwächten Viren gegen Mumps, Röteln und auch Windpocken verabreicht. Ein Maserneinzelimpfstoff ist in Deutschland und in der EU nicht zugelassen. Impfziel ist der Individualschutz vor Krankheitskomplikationen sowie der Gemeinschaftsschutz besonders Gefährdeter, die nicht geimpft werden können wie Säuglinge oder Immungeschwächte. Weltweit sollen die Masern eliminiert werden. Dies setzt voraus, dass man Infektketten durch fortgesetztes Impfen unterbrechen kann. Mit einer weltweiten Ausrottung der Masern rechnet die WHO derzeit nicht vor 2100.7 Bei konkreter Ansteckungsgefahr wirkt die Impfung sofort, oft sogar noch innerhalb von 72 Stunden nach mutmaßlicher Ansteckung.

Eine Masernimpfung wurde in den frühen 1970er Jahren in Deutschland eingeführt. Ein Zweidosenschema wurde in der ehemaligen DDR ab 1983 (also für heute unter 36-Jährige) und in ganz Deutschland ab 1991 (also für heute unter 28-Jährige) empfohlen. Seit 2001 empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko) am Robert-Koch-Institut die erste Masernimpfung in Kombination mit Mumps, Röteln und Windpocken mit elf bis 14 Monaten und eine Wiederholung mit 15 bis 23 Monaten. Wegen großer Impflücken bei den Erwachsenen sollen sich seit 2010 alle nach 1970 Geborenen einmal gegen Masern, Mumps und Röteln impfen lassen, wenn sie keine Masern hatten und bisher gar nicht oder nur einmal geimpft wurden. Die Schutzimpfungsvereinbarungen der Bundesländer setzen diese Empfehlungen in öffentliches Landesrecht um. Das Land Sachsen hat als einziges Bundesland eine eigene Impfkommission. Diese empfiehlt wie einige andere euro­päische Länder die zweite MMR-Impfung entgegen der Stiko im vierten Lebensjahr. Wie gut wirkt die Impfung? Nach den infektionsepidemiologischen Jahrbüchern des RKI 2008 bis 2018 erkrankten in diesem Zeitraum 10.519 Menschen in Deutschland an Masern. Von diesen waren rund 79 Prozent ungeimpft, rund zwei Prozent waren zeitgerecht zweimal und weitere rund zwei Prozent einmal geimpft. Bei dem Rest war der Impfstatus aus verschiedenen Gründen nicht bewertbar. Bei dem Masernausbruch in Berlin 2014/15 mit 1.344 Erkrankten und einem mittleren Alter von 17 Jahren zeigte sich, dass zwar selten, aber insbesondere bei den über 31-Jährigen (mildere) Erkrankungen auch dann beobachtet werden konnten, wenn sie in der Kindheit zweimal geimpft worden waren. Dies wurde als mögliches sekundäres Impfversagen gewertet.8 Auch andere Ausbruchsuntersuchungen unter Erwachsenen zeigen, dass sehr frühes Impfen langfristig zu weniger individuellem Schutz führen kann.9 Die kluge Wahl der Impfzeitpunkte trägt also zum nachhaltigen Impferfolg bei. Heute kann man jedoch sagen: In Deutschland ist Nichtimpfen noch der häufigste Grund für Impfversagen und weiterbestehende Infektketten. Und da nachzuholende Impfungen im Jugendalter oft vergessen bleiben, wäre es tragisch, wenn Waldorfschulabsolventen in die Welt ziehen und Masern z.B. in ein Entwicklungshilfeprojekt exportieren. Mögliche Nebenwirkungen der Masern-Mumps-Röteln-Impfung sind: Vorübergehende Lokalsymptome, Fieber, Hautausschlag (nach ein bis zwei Wochen »Inkubationszeit«). Selten können Fieberkrämpfe, noch viel seltener ein vorübergehender Blutplättchenmangel vorkommen. Durch die Rötelnkomponente kann es (seltener als bei Röteln) zu vorübergehenden Gelenkschmerzen kommen. Es gibt Einzelberichte über allergische Allgemeinreaktionen und neurologische Symptome. 2014 sind in Deutschland zwei Kinder mit einem bis dahin unbekannten kombinierten Immundefekt an der MMR-Impfung verstorben. Wäre dieser Immundefekt bekannt gewesen, hätte es sich hierbei um eine MMR-Impfkontraindikation gehandelt.10 Es konnte kein Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und Typ1-Diabetes, Asthma, Leukämie, entzündlichen Gehirnerkrankungen, Morbus Crohn oder Autismus nachgewiesen werden.

Merkblatt der anthroposophischen Ärzte

Warum sind in waldorfpädagogischen Einrichtungen die Impfquoten niedriger? Dies kann verschiedene Gründe haben.11 Ein Grund bei der Masernimpfung ist, dass Masern seitens der Anthroposophie auch als eine Herausforderung für den sich entwickelnden Leib verstanden werden. Habe das Kind diese Herausforderung mit hohem Fieber gemeistert, könne es seinen Körper besser individualisieren – was Kindern, die ernste Komplikationen erleiden, allerdings wenig nützt. Zu diesem Gesichtspunkt gehört ein heute kaum noch vorkommendes Erkrankungsalter von zwischen zwei und neun Jahren. Dies wurde in den Merkblättern der Gesellschaft anthroposophischer Ärzte in Deutschland (GAÄD) immer mit aufgeführt. Die aktuell gültige Auflage des Masernmerkblattes der GAÄD betont den angesichts gegenwärtiger Masernepidemiologie wichtigeren sozialethischen Aspekt der Impfung stärker als bisher und empfiehlt sie daher früher.12

Das Dilemma bei der Masernimpfpflicht

Die Masernimpfung ist heute auch zu einer Aufgabe des Schutzes der Schwächsten in der Gesellschaft geworden. Dieser Aspekt muss in einem Aufklärungsgespräch immer berücksichtigt werden. Hier knüpft das im November verabschiedete Masernschutzgesetz an. Als Dilemma bleibt aber: Eine medizinische Maßnahme hat nach der Genfer Deklaration für Ärzte und nach dem Grundgesetz mit dem informierten Einverständnis des autonomen Patienten zu geschehen oder im Falle von nicht einwilligungsfähigen Kindern ihrer sorgeberechtigten Eltern. Dies sorgt dafür, dass sich Patient und Arzt mehr auf einer Erkenntnis- und weniger auf einer Machtebene begegnen, was für eine moderne Arzt-Patienten-Beziehung als angemessen angesehen wird. Erkenntnis- durch Machtfragen zu ersetzen, ist auch beim Masernschutz ethisch13 und juristisch14 hinterfragbar. Das Masernschutzgesetz selber wird viele juristische, soziale und bürokratische Auswirkungen haben, die die Stuttgarter Rechtsanwaltskanzlei Keller und Kollegen am 14.11.2019 für die Vereinigung der Waldorfkindergärten in einer Handreichung aufgeführt hat (im Internet zu finden).

Schlussfolgerung

Einerseits wird heute in Kreisen, die der anthroposophischen Medizin nahestehen, anders über die Masernimpfung gedacht als noch vor 50 bis fünf Jahren. Andererseits empfinden verschiedene, auch anthroposophische Verbände das Masernschutzgesetz als unangemessen und kontraproduktiv für die derzeitige Situation in Deutschland. Sie werden daher auch gut vorbereitete Klagen Betroffener vor dem Bundesverfassungsgericht unterstützen. Diese sind möglich, sobald das Gesetz wirkt. Zweiteres sollte Impfunentschlossene jedoch nicht von Ersterem ablenken.

Zum Autor: Dr. Till Reckert arbeitet in einer Kinder- und jugendärztlichen Gemeinschaftspraxis.

Anmerkungen: 1. Guerra, F. M. et al. Waning of measles maternal antibody in infants in measles elimination settings - A systematic literature review. Vaccine 36, 1248–1255 (2018). 2. Die Bundesregierung. Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz). (2019). 3. Dilger, C., Leher, A. & Pfaff, G. Masern-Impfstatus bei Kindern in Waldorf-Kindertageseinrichtungen 2014-18. Berichtsband zur 6. Nationalen Impfkonferenz 2019 144–7 (2019). 4. Robert Koch-Institut. Masern RKI-Ratgeber für Ärzte. (2019). 5. Ehrenstein, C. Zahl der Maserntoten: Regierung muss Impfgegnern in einem Punkt recht geben. DIE WELT (2018). 6. Campbell, H., Andrews, N., Brown, K. E. & Miller, E. Review of the effect of measles vaccination on the epidemiology of SSPE. Int. J. Epidemiol. 36, 1334–1348 (2007). 7. WHO. Meeting of the Strategic Advisory Group of Experts on Immunization, October 2019: conclusions and recommendations. Weekly Epidemiological Record 94, 541–60 (2019). 8. Bitzegeio, J., Majowicz, S., Matysiak-Klose, D., Sagebiel, D. & Werber, D. Estimating age-specific vaccine effectiveness using data from a large measles outbreak in Berlin, Germany, 2014/15: evidence for waning immunity. Eurosurveillance 24, 1800529 (2019). 9. Serres, G. D. et al. Higher Risk of Measles When the First Dose of a 2-Dose Schedule of Measles Vaccine Is Given at 12–14 Months Versus 15 Months of Age. Clin Infect Dis. 55, 394–402 (2012). 10. Mentzer, D. & Keller-Stanislawski, B. Daten zur Pharmakovigilanz von Impfstoffen aus dem Jahr 2014. Bulletin zur Arzneimittelsicherheit 12–19 (2016). 11. Pfaff, G. Die Eliminierung von Masern und Röteln aus Deutschland: Fortschritte und Hindernisse. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 56, 1222–4 (2013). 12. https://t1p.de/masern-gaaed 13. Deutscher Ethikrat. Impfen als Pflicht? Stellungnahme. (2019). 14. Rixen, S. Verfassungsfragen der Masernimpfpflicht: Ist die Impfpflicht nach dem geplanten Masernschutzgesetz verfassungswidrig? (2019).