Eine große, altehrwürdige Bibliothek, in ihrer Mitte eine Tür, die eigentlich keine ist. Sie führt in ein kahles, einfaches Wohnzimmer, ohne Bücherregal, rechts hinter der Tür steht wohl ein Fernseher. Durch diese Tür tritt ein junger Mann von dem einen in den anderen Raum. Bekleidet mit T-Shirt, Shorts und Pantoffeln steht er staunend da, mit offenem Mund – man sieht ihn förmlich denken: »Mensch, so was hab' ich ja noch nie gesehen!«
Mit diesem Bild wirbt ein großes deutsches Telekommunikations-Unternehmen, das DSL Anschlüsse anbietet, für seine Produkte.
Es erhält seine Aufmerksamkeit erregende Spannung dadurch, dass zwei völlig verschiedene Welten ohne dazwischen liegenden Übergang unmittelbar zusammengebracht werden – ein »übergangsloser Übergang« und dazwischen ein Mensch, der von dieser Situation offensichtlich überfordert ist.
Dieses Motiv kann anregen, darüber nachzudenken, welche Fähigkeiten, welche Kompetenzen ein Mensch braucht, um mit einer solchen Situation, die ja durch Computer und Internet gegeben ist, sinnvoll umzugehen.
Der verblüffte junge Mann in der Tür verfügt bereits über eine Kompetenz: Er kann mit einem Computer umgehen und weiß, wie man im Internet surft. Aber wie das Bild zeigt, reicht das nicht aus. Was muss er noch können? Beginnen wir mit der Bibliothek.
Schon Bücherlesen will gelernt sein
Welche Kompetenzen braucht es, um eine große Bibliothek sinnvoll zu nutzen? – Man muss lesen können. Das ist neben der Bedienung eines Computers eine weitere technische Fähigkeit. Aber auch das reicht nicht aus, denn man muss ja lesen wollen, das heißt, Interesse für etwas aufbringen. Ein solches Interesse ist nicht unbestimmt, es liegt ihm eine bestimmte Fragestellung zu Grunde. Die sinnvolle Nutzung einer großen Bibliothek setzt voraus, dass man eine kleine oder auch größere Forschungsfrage hat, die man klären will. Man will etwas herausfinden, das vielleicht noch kein Mensch vorher so gedacht hat. Das wiederum erfordert, dass der Mensch selbstständig denken kann, dass er etwas kritisch zu hinterfragen, aber auch neue Zusammenhänge zu sehen vermag, an die vorher noch keiner gedacht hat.
In einer großen Bibliothek findet man meist nicht sofort, was man sucht, vor allem wenn die Frage komplex ist. Dann bedarf es der Ausdauer, man muss die Frustration ertragen können, dass man viele Stunden, ja vielleicht sogar mehrere Tage nach etwas sucht und dann vielleicht immer noch nicht richtig fündig geworden ist. Mit der Ausdauer geht einher, dass man sich auf eine Sache konzentrieren kann. Man muss fähig sein, sich eine längere Zeit vollständig mit einem Thema zu beschäftigen und dabei mögliche Ablenkungen auszublenden. Das bedeutet, dass der Mensch über Selbstdisziplin verfügt.
Will man die Bibliothek richtig nutzen, dann muss man wissen, welche Bücher wo stehen, man braucht einen Überblick, wie die verschiedenen Sachgebiete angeordnet sind. Das setzt Allgemeinbildung voraus, das heißt, ein grundlegendes Verständnis davon, was in welchem Sachgebiet von anderen Menschen behandelt und untersucht wurde. Denn nur mit diesem Wissen kann man auch entscheiden, wo man mit seiner Frage innerhalb der Bibliothek am ehesten Hinweise und Antworten findet.
Man sieht, der Umgang mit einer Bibliothek, der ja durch den »übergangslosen Übergang« mit Hilfe des Computers von jedem Kinderzimmer aus möglich ist, setzt einige Fähigkeiten – Kompetenzen – voraus. Ohne sie steht man nur staunend da. Man hat zwar die faszinierenden technischen Möglichkeiten, von zu Hause aus weltweit in riesigen Bibliotheksbeständen zu recherchieren, aber man kann diese Möglichkeit nicht wirklich nutzen.
Bereits der kompetente Umgang mit den Büchern setzt Fähigkeiten voraus, die weit über bloß kognitive Kompetenzen hinausgehen. Das gilt erst recht und in noch größerem Maße für die vielen Möglichkeiten, die die neuen Medien zusätzlich anbieten.
Der sinnvolle Umgang mit Medien setzt folgende Kompetenzen voraus:
- technische Kompetenzen: richtiger Gebrauch
- Urteilsfähigkeit: Einschätzung der Möglichkeiten und Risiken
- Allgemeinbildung
- selbstständiges Denken
- eigene Fragen (Fantasiefähigkeit)
- Interesse
- Konzentrationsfähigkeit
- Ausdauer
- Selbstdisziplin
Medienkompetenzen sind Lebenskompetenzen
Im Bereich der Medienpädagogik hat man schon lange darüber nachgedacht, was Medienkompetenz ausmacht. Der Erziehungswissenschaftler Bernd Schorb beschrieb einmal die verschiedenen Ansätze und versuchte anschließend die folgende Zusammenfassung:
»Medienkompetenz ist die Fähigkeit auf der Basis strukturierten zusammenschauenden Wissens und einer ethisch fundierten Bewertung der medialen Erscheinungsformen und Inhalte, sich Medien anzueignen, mit ihnen kritisch, genussvoll und reflexiv umzugehen und sie nach eigenen inhaltlichen und ästhetischen Vorstellungen, in sozialer Verantwortung sowie in kreativem und kollektivem Handeln zu gestalten.«
Schorb fügt also zu den bereits genannten Aspekten der Medienkompetenz noch weitere hinzu:
- ästhetische und künstlerische Handlungs- sowie Beurteilungsfähigkeiten
- ethische Wertmaßstäbe
- soziale Fähigkeiten
Medienkompetenz setzt also – so banal es klingt – all diejenigen allgemeinen Fähigkeiten voraus, die ein Mensch besitzen sollte, wenn er den Anforderungen des privaten und beruflichen Lebens gewachsen sein will. Man kann daher sagen: Medienkompetenz ist die auf das Feld der Medien spezialisierte Lebenskompetenz. Medienkompetenz ist ein Teilaspekt der menschlichen Fähigkeit, dem Lebensalltag, der selbstverständlich auch das Gebiet der Medien beinhaltet, gewachsen zu sein.
Wie wird man medienkompetent?
Eine für die Pädagogik wichtige Frage ist: Wie erwirbt man sich diese Kompetenzen, und vor allem wo und wann erübt man sie?
Viele Menschen neigen dazu, zu sagen, dass man Medienkompetenz natürlich nur im Umgang mit Medien selbst erwerben könne. Dieser Gedanke erscheint auf den ersten Blick einleuchtend. Denn selbstverständlich können die technischen Aspekte der Medienkompetenz nur im konkreten Umgang mit Medien erworben werden. Aber gilt das für alle oben genannten Fähigkeiten? Sehen wir uns dazu die Konzentrationsfähigkeit etwas genauer an.
Wenn man Kinder und Jugendliche bei ihrer Arbeit am Computer beobachtet, dann könnte man schnell zu der Auffassung kommen, dass die Ausbildung der Konzentration am einfachsten durch die direkte Beschäftigung mit dem Computer geschieht. Als die Computer neu in die Schulen kamen, gab es begeisterte Lehrer, die sagten: »Es gibt hier Kinder, die konnten keine fünf Minuten stillhalten, … nun sitzen die plötzlich konzentriert vor dem Bildschirm.«
Von außen gesehen sieht es tatsächlich so aus, als ob diese Kinder sich konzentrieren würden. Wie sieht das aber von »innen« her gesehen aus?
Ein physikalisches Experiment vermag dies zu veranschaulichen: Man bläst einen Luftballon auf. Der im Innern des Ballons herrschende Überdruck dehnt den Ballon aus. Man kann ihn aber auch nur leicht aufblasen, zuknoten und in eine Glasglocke legen, aus der man die Luft absaugt, was außerhalb des Ballons einen Unterdruck erzeugt. Durch den Druckausgleich dehnt sich der Ballon ebenfalls aus, nur wird er jetzt nicht durch Druck von innen aufgeblasen, sondern durch den umgebenden Unterdruck aufgesaugt.
Dieses physikalische Experiment gibt eine passende Metapher für das, was sich zwischen Mensch und Bildschirm abspielt. Konzentration im eigentlichen Sinne wird dann aufgebracht, wenn der Mensch aus eigener Willensanstrengung einen inneren Freiraum herstellt und eine bestimmte Sache in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit rückt. Wer einmal versucht hat, auch nur fünf Minuten lang an einen einfachen Gegenstand, wie beispielsweise ein Streichholz, ohne Abschweifung sachgemäße Gedanken anzuschließen, weiß, wie anstrengend diese aktive Konzentration ist.
Im Umgang mit einem Bildschirm kann man sich selbstverständlich auch konzentrieren (wenn man bereits über diese Fähigkeit verfügt), aber eine genaue Selbstbeobachtung zeigt, dass vom Bildschirm eine Art »Sogwirkung« ausgeht, welche die Aufmerksamkeit anzieht, so dass in weit geringerem Maße die Notwendigkeit besteht, sich aus eigener Kraft zu konzentrieren. Auf Grund des Sogeffekts bedarf es der Fähigkeit der Konzentration in sehr viel geringerem Grad, um sich über längere Zeit mit den Bildschirminhalten zu beschäftigen. Der Bildschirm saugt die Aufmerksamkeit an, das sieht dann so aus, als ob der Mensch sich konzentrieren würde – ein Irrtum, der auf ungenauer Beobachtung beruht.
Um die Fähigkeit der Konzentration zu üben, sind Bildschirmmedien daher denkbar ungeeignet. Um sinnvoll und effektiv und vor allem zeitökonomisch mit dem Computer umgehen zu können, muss man bereits über die Fähigkeit der Konzentration verfügen. Ein Ähnliches gilt für die Selbstdisziplin, die sozialen Fähigkeiten usw.
Medienkompetent wird man durch nichtmediales Arbeiten
Es braucht nichtmediale Arbeitsfelder, auf denen diese und andere Fähigkeiten erworben werden können. Die Ausbildung der Medienkompetenz bedarf nichtmedialer Lebensfelder, auf denen die Fähigkeiten erübt werden können, die man zwar zum kompetenten Umgang mit Medien notwendig braucht, die aber im direkten Umgang mit Medien nur schwer oder gar nicht erworben werden können. Handwerkliche und künstlerische Arbeitsfelder beispielsweise sind sehr geeignet, um wichtige Medienkompetenzen auszubilden.
Dieser Gedanke möge nicht missverstanden werden: Es wird nicht gesagt, dass man Handwerk »anstatt« Medienkunde machen soll, sondern es wird darauf aufmerksam gemacht, dass zusätzlich andere Felder in den Schulen verstärkt angeboten werden müssen. Neben der im beginnenden Jugendalter absolut notwendigen direkten Medienbildung müssen verstärkt ausgleichende Arbeitsfelder angeboten werden, in denen Kinder und Jugendliche die für das Leben mit Medien notwendigen Fähigkeiten üben können, die sie im direkten Umgang mit ihnen nicht erwerben können.
Es klingt scheinbar paradox, aber es ist so: Es bedarf medienfreier Arbeitsfelder, auf denen wichtige Medienkompetenzen erworben werden können, also Arbeitsfelder, wo man nicht mit Tafel und Kreide, Buch und Heft, Filmkamera und Bildschirm, Computer und Drucker umgeht.
Die in der Waldorfpädagogik gepflegten musischen und handwerklichen Unterrichtsfächer, in denen man am konkreten handwerklichen und künstlerischen Tun wichtige Fähigkeiten erarbeiten kann – unter anderem eben konzentriertes sachgemäßes Denken, Verantwortlichkeit, Ausdauer usw. –, erhalten für die Schulbildung im Zeitalter der Medien eine zunehmend größere Bedeutung.
Lebenskompetenz schützt vor Mediensucht
Ein letzter Gedanke. Es wurde auf den subtilen Sog hingewiesen, mit dem Bildschirme die Aufmerksamkeit des Menschen anziehen. Eine Werbegrafik in einer Computer-Zeitschrift stellte das vor vielen Jahren einmal sehr plastisch dar.
Dieses Bild war damals als origineller »Werbegag« gedacht, heute weist es auf ein ernstes Problem hin. Viele Lehrerinnen und Lehrer können gegenwärtig ab der 7., 8. und 9. Klasse eine deutliche Beobachtung machen: Da gibt es einzelne Schülerinnen und Schüler, die in einem Orchester oder einem Sportverein engagiert sind, die bei Wettbewerben zu musikalischen oder sportlichen Erfolgen kommen. Für diese Erfolge haben sie ein hartes, anstrengendes und ausdauerndes Üben und Trainieren in Kauf genommen. Genau diese Qualität des pflichtbewussten und ausdauernden Arbeitens findet man bei diesen Schülerinnen und Schülern im Unterricht wieder. Entsprechend erfolgreich absolvieren sie ihre Abschlüsse.
Und dann gibt es daneben andere, vor allem männliche Schüler, die ebenfalls lange und ausdauernd tätig sind, beispielsweise bei dem Onlinecomputerspiel »World of Warcraft«. Da sind etliche Schüler jeden Tag manchmal mehrere Stunden extrem engagiert tätig. Und bei diesen Schülern gibt es wiederum einzelne, die regelrecht im Online-Spiel »versacken«. Die Verhaltenssymptome dieser Schüler entsprechen denjenigen eines Suchtverhaltens. Schaut man genauer hin, dann liegen dieser suchtartigen Computernutzung große Lebensprobleme zu Grunde. Diese jungen Menschen haben fast immer in irgendeiner Weise ein Problem, im konkreten Leben Fuß zu fassen und flüchten sich daher in virtuelle Scheinwelten, wo sie eine scheinbare Möglichkeit finden, ihren Lebensschwierigkeiten auszuweichen und dort das zu finden, was ihnen im realen Leben versagt ist. Sie können nicht selbstbestimmt und kompetent mit Medien umgehen, weil ihnen die Fähigkeiten fehlen, das konkrete Leben in seinen realen Anforderungen zu bewältigen. Und gerade am Online-Suchtproblem wird deutlich, dass Medienkompetenz vor allem anderen eines voraussetzt: dem realen Lebensalltag im Hier und Jetzt gewachsen zu sein. Medienkompetenz ist nichts anderes als Lebenskompetenz, die das spezielle Gebiet der Medien mit einbezieht.
Zum Autor: Dr. habil. Edwin Hübner, Jahrgang 1955, seit 1985 Lehrer für Mathematik Physik, Technologie und Religion an der Freien Waldorfschule Frankfurt/Main. Seit 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Pädagogik, Sinnes- und Medienökologie (IPSUM) in Stuttgart und seit 2008 auch Dozent an der Freien Hochschule Mannheim.
Literatur: Jürgen Hüther/Bernd Schorb: Grundbegriffe Medienpädagogik, München 2005 / »Der Spiegel«, 09/1994, S. 96 / Edwin Hübner: Medien und Gesundheit – Was Kinder brauchen und wovor man sie schützen muss, Stuttgart 2006 / Edwin Hübner: Imaginationen im virtuellen Raum, Technik und Spiritualität – Chancen eines neuen Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2008