Felicitas schaute sie an und fragte: »Warum machst du das?« und deutete auf das eindrucksvolle Outfit. Ihr Gegenüber antwortete schlagfertig: »Hätten Sie mich sonst angesprochen?« Angesprochen, gesehen, als vorhanden beachtet werden – das ist nicht selbstverständlich. Wer aber sind wir, wenn wir übersehen werden?
Wenn unser Individuelles unbeachtet bleibt, nicht zählt?
Aus dem Umkreis Gestalt annehmen
Schon im Mutterleib wird der Körper – wenn auch noch nicht bewusst – als etwas erlebt, mit dem man selber tätig ist und an dem man in enger Resonanz mit der Umgebung unablässig arbeitet. Das ist schon lange bekannt durch die hochauflösenden Ultraschallaufnahmen, aber auch durch Tierversuche. Auch das Phänomen der Induktion von Geweben während der Embryonalentwicklung beruht auf der permanenten Interaktion und Resonanz des sich entwickelnden Embryos in und mit seiner Umgebung. Gerald Hüther beschrieb diesen Tatbestand als Ursache dafür, dass jeder Mensch weiß, was Würde ist. Der Würde-Begriff sei das Ergebnis der Erfahrung während der Schwangerschaft, dass man unausgesetzt von der Mutter alles bekommen hat, was man braucht. Zu erleben, dass man einem anderen Menschen so wichtig ist, dass er einem alles zur Verfügung stellt, damit man sich entwickeln kann – dies prägt sich als fundamentale Erfahrung ein und sitzt als Wertemaßstab, als Tugend in uns allen, auch wenn diese Erfahrung dann später durch anderes so überlagert wird, dass man sich nicht mehr »erinnert«. Nach der Geburt setzt sich dies fort, nur in anderer Form.
Eindrucksvoll ist, wie sehr Neugeborene und Kleinkinder ihre Umgebung miterleben, als ob das Selbsterleben nicht an den Körpergrenzen Halt machen würde. Jeder kennt aus Begegnungen mit Ein- bis Zweijährigen, was geschieht, wenn man ihnen zu nahe kommt: Sie »fremdeln«, wenden sich ab und können auch verletzt mit Schreien und Weinen reagieren, obwohl man unter Umständen noch ein, zwei Meter Abstand zu ihnen hat. Im Laufe der ersten sieben Jahre nimmt dann diese starke Verbindung mit dem Umkreis ab, die Nachahmungsfähigkeit lässt nach, die Sinne sind weitgehend entwickelt, der Zahnwechsel setzt ein und mit ihm die Fähigkeit zur abstrakten Erinnerung. Jetzt kann das Kind etwas, was es nur einmal gehört oder gesehen hat, im Gedächtnis behalten und es klar wiedergeben und beschreiben. Zu diesem Zeitpunkt hat sich auch das Bewusstsein der eigenen Körpergrenzen und der Körpergeographie (Körperschema) bis hin zur klaren Orientierung im Raum entwickelt. Die anthroposophische Menschenkunde fügt zu diesen Beobachtungen den Gesichtspunkt hinzu, dass sich im Laufe der ersten sieben Jahre all die den Körper formenden Lebenskräfte sukzessive von der körperlichen Tätigkeit zurückziehen und in die Formkräfte des Gedankenlebens umwandeln.
Sich im Leib beheimaten
Im Gegensatz zum ersten Jahrsiebt steht die Zeit zwischen sieben und vierzehn Jahren mehr im Zeichen der emotionalen Reifung, der Gefühlsentwicklung. Anders als die formenden, wachstumsorientierten Lebenskräfte des Ätherleibes wirken die astralischen Kräfte differenzierend. Diese Differenzierungstätigkeit kulminiert körperlich in der Pubertät, wenn sich die männliche und weibliche Konstitution herausbildet, seelisch im Ausleben der Sympathien und Antipathien.
Eine entwicklungsorientierte Betrachtung macht deutlich, wie die Art und Weise körperlicher Selbsterfahrung mitbestimmt wird durch Möglichkeiten, die man als Kind im ersten Jahrsiebt hatte, sich an der eigenen Leibbildung wirksam zu beteiligen: das heißt, wie frei man sich bewegen und auf Dinge zugehen konnte; wie man seine Neugier ausleben, wie man spielen und seine gegenständliche Mitwelt erkunden durfte; wie man sein Interesse an allem, was im Umkreis vor sich geht, ausbilden konnte – ohne jedoch auf die klaren Grenzziehungen seitens der Eltern und Erzieher verzichten zu müssen. Grenzziehungen im Sinne eines Tag-Nachtrhythmus, von Essensregeln und des Aufbaus guter Gewohnheiten, wie sie zu einer gesunden Selbst- und Umweltwahrnehmung gehören. Fehlt dies als Untergrund, findet das Gefühlsleben, das sich zunehmend vom Körper emanzipiert und rein seelisch erlebt, weder mit Bezug auf das Verhältnis zum Leib noch mit Bezug auf die Umgebung eine Orientierung. Man fühlt sich verunsichert. In dieser Verunsicherung, die sich bis zu Gefühlen von Angst oder Hass dem eigenen Körper und der Umgebung gegenüber steigern kann, liegt viel begründet, was die Jugendlichen anfällig macht für Bandenbildung und andere Identitätsangebote, in denen das von Zweifeln geplagte Selbsterleben aufgehen und sich stark fühlen kann. Es wird aber auch verständlich, warum die Sehnsucht, den eigenen Körper durch die Art der Bekleidung intensiver wahrnehmen zu können, so groß ist: möglichst eng, möglichst lässig oder auch durchlöchert und gerade nicht konform zur Jahreszeit.
Den Körper als Abbild der eigenen Identität erleben
Ab dem 14. Lebensjahr bis Anfang 20, wenn der Jugendliche ausgewachsen ist, steht die Entwicklung der Willensfreiheit im Vordergrund. In der anthroposophischen Menschenkunde wird dieses System der Willenskräfte als Ich-Organisation bezeichnet. Diese Kräfte wirken integrierend und vermögen, die Tätigkeiten des Ätherleibs und Astralleibs aufeinander abzustimmen und zu harmonisieren. Neurobiologisch geschieht dazu parallel, dass die Kontrollinstanzen des Frontalhirns ausreifen und das menschliche Denken, Fühlen und Wollen zunehmend selbstbestimmt werden.
Viele Eltern verbieten ihren Kindern vor dem 16. Lebensjahr, Tattoos zu stechen und an anderen Stellen als den Ohren Piercings zu tragen. Umso bunter wird es dann aber ab diesem Alter. Das Erlebnis bewusster Willensentscheidung, das Freiheitsempfinden, mit dem eigenen Körper machen zu dürfen, was man will – ja ihn so zu gestalten, dass man sich mit ihm identifizieren und ihn als seinen eigenen zeigen kann – all dies beherrscht jetzt das Bewusstsein der Jugendlichen. Dass sich dieser freie Gestaltungswille so intensiv dem eigenen Körper zuwendet, ist eine Entwicklung, die langsam nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt hat und seit den 1980er Jahren zum globalen Massenphänomen geworden ist.
Interessanterweise geht diese Entwicklung Hand in Hand mit dem Einzug von Funk und Fernsehen in die Haushalte, auf welche das Internet und die Digitalisierung folgte. Eine wenig beachtete Folge der Digitalisierung und des Medienkonsums ist, dass Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit weniger Gelegenheit haben, sich körperlich zu betätigen. Wandern, Spielen im Freien, Sport, Musizieren und andere Hobbys werden vernachlässigt – weil der Bildschirm mit seinem enormen Unterhaltungsangebot sehr attraktiv ist. Das bedeutet für die Entwicklung der körperlichen Selbsterfahrung jedoch einen Mangel, der dann zum Anlass wird, sich seines Körpers auf andere Art zu vergewissern. Denn: Wie bildet sich ein gesundes Identitätserleben? Durch Eigentätigkeit! Ohne dass ich mich selbst betätige, kann ich mich weder körperlich noch seelisch als vorhanden erleben. Diese Eigentätigkeit findet auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene statt. Kommt sie zu kurz durch Mangel an selbstgesteuerter Aktivität in den ersten sieben Jahren und durch ein Schulsystem, das Leistungen nach Schema erwartet und sich weniger an die schöpferischen Seelenkräfte des Schulkindes wendet, dann müssen notwendigerweise Defizite in der Selbsterfahrung und Identitätsbildung auftreten. Hinzu kommt, dass nach der Pubertät ohnehin die Abschlussexamina und Leistungsanforderungen der Gesellschaft im Vordergrund stehen, so dass den Jugendlichen schlicht die Muße fehlt, sich der eigenen Geisteskräfte und der Fähigkeit eigenständiger Selbst- und Weltreflexion bewusst zu werden. So kann der heutige Körperkult im Jugendalter einerseits als Ersatz für Vieles stehen, was in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nicht mehr stattfinden kann. Andererseits zeigt er den starken Willen der Jugendlichen an, eine Individualität zu werden und den eigenen Körper zum Abbild der gefühlten Identität zu machen.
Der holländische Maler Rembrandt hat während seines ganzen Lebens immer wieder Selbstbildnisse gemalt. Er wollte erleben und sichtbar machen, wie der eigene Körper die in ihm tätigen Seelen- und Geisteskräfte ausdrückt. Die Neigung, Selbstbildnisse anzufertigen, kam erst mit der Neuzeit auf und ist sozusagen typisch für den modernen Menschen. Was im 15., 16. und 17. Jahrhundert von einer kleinen Elite meist künstlerisch zum Ausdruck gebracht wurde, ist an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert Massenphänomen geworden. Den eigenen Körper künstlerisch zu gestalten oder künstlich zu verändern oder zumindest ganz viele »Selfies« von sich zu machen und mit anderen zu teilen, ist typisch für uns Menschen heute.
Entscheidend wird jedoch sein, zu dem vorzudringen, was Künstler wie Dürer oder Rembrandt in ihren Selbstbildnissen gesucht haben: Die geistigen Kräfte, die den eigenen Leib bilden, die seelisches Erleben ermöglichen und die nach dem Tode fortbestehen. Ohne sie gäbe es keine individuelle Entwicklung, ohne sie keine wirkliche Identität.
Zur Autorin: Dr. med. Michaela Glöckler, Kinderärztin, ist ehemalige Leiterin der Medizinischen Sektion am Goetheanum in Dornach und Mitbegründerin der europäischen Allianz von Initiativen angewandter Anthroposophie/ELIANT.
Literatur: G. Hüther: Würde – Was uns stark macht als Einzelne und Gemeinschaft, München 2019
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