Gesundheit und Leben sind in der Pubertät um ein Vielfaches stärker gefährdet als jemals sonst in jungen Jahren. Unfälle, Selbstmorde, Totschlag, Zwangsstörungen und Depressionen, Substanzmissbrauch einschließlich Alkohol und Nikotin, HIV, Hepatitis C, ungewollte Schwangerschaften und Essstörungen treten um 200 Prozent häufiger auf. Fast drei Viertel aller Raucher beginnen ihren Nikotinmissbrauch im Alter zwischen 11 und 17 Jahren, 60 Prozent davon mit 14. Die Hälfte aller erwachsenen Benutzer illegaler Drogen haben zwischen 15 und 18 mit dem Missbrauch begonnen. Jungen und Mädchen unterscheiden sich dabei kaum. Im Hinblick auf den Missbrauch von Alkohol und Nikotin haben sie sich weitgehend angenähert, lediglich in der Auswahl der Genussmittel gibt es noch Unterschiede. Riskantes Sexualverhalten und Gewalterfahrungen sowohl als Täter wie als Opfer finden sich nur geringfügig häufiger bei Jungen. Für viele dieser Phänomene ist nachgewiesen, dass ihr Auftreten eindeutig mit der Pubertät korreliert und nicht mit dem Alter oder Geschlecht.
Warum ist die Pubertät gefährlich?
Wenn die Pubertät einsetzt, wachen wir auf in unserer Seele. Wir begegnen zum ersten Mal unseren höchsten Lebensidealen, aber auch tiefen Selbstzweifeln. Wir genießen die gedankliche Beschäftigung mit hochphilosophischen Ideen und den beglückenden Rausch der aufkeimenden Erotik, die mit ihrer Romantik alles durchdringt. Aber wir erleben auch bittere innere Leere und Lebensüberdruss. Und nicht nur in unserer Seele beginnt eine ganz neue Entwicklungsphase. Auch körperlich kann man beobachten, wie die bisher gleichsam von einem inneren Zentrum ausgehende, einheitliche Tendenz des Wachstums und der Organreifung sich verändert. Ihr beginnt nun wie aus dem Umkreis hereinstrahlend eine Kraft der Differenzierung entgegenzuwirken, die alles Einheitliche auflöst und in Gegensätzlichkeiten führt. Polarisierung ist die alles beherrschende Geste dieser Entwicklungsperiode. Die Sexualhormone erscheinen im Blut und spalten die weitere menschliche Entwicklung in die Zweiheit der Geschlechter. Alle biologischen Rhythmen, die ja auch zwischen Polaritäten pendeln, müssen neu eingeregelt werden. Auch der »biologisch« geregelte Schlafrhythmus geht verloren und muss sich neu einstellen, wobei häufig Schlafstörungen auftreten. Und bei Mädchen setzt mit der ersten Regelblutung eine ganz neue Rhythmik ein, die von nun an mit ihrer zyklischen Polarität lange Zeit das Leben prägen wird.
Die Gehirnentwicklung in der Pubertät
Sehr deutlich können wir diesen Umbruch auch an der Entwicklung des Gehirns verfolgen. Es ist in diesem Alter viel formbarer und viel stärker beeinflussbar durch die Umwelt, als man sich das noch vor Jahren hätte vorstellen können. Es wiederholt sich in dieser Zeit etwas von der Entwicklungsdynamik der ersten Lebensjahre eines Kindes und bildet sich damit auch neurophysiologisch ab, worauf Rudolf Steiner immer wieder hingewiesen hat: das Einsetzen der Pubertät hat für die Seele Ähnlichkeit mit dem, was die Geburt für den Körper des Menschen bedeutet.
Mit dem Einsetzen der Pubertät beginnt die »Schneeschmelze der Synapsen« (Freeman). Fast ein Drittel der Vernetzungen bildet sich im Laufe der nächsten Jahre wieder zurück und verödet. Nur jene »Trampelpfade« (Spitzer), die häufig benutzt werden, stabilisieren sich und bleiben übrig. Erst gegen Mitte der zwanziger Jahre geht diese Neustrukturierung langsam zu Ende. Wenn auch die Plastizität des Gehirns in geringerem Grade während des gesamten Lebens anhält, lässt sich leicht ausmalen, was diese Veränderung für unsere dann im weiteren Leben zur Verfügung stehende Hirn-Architektur bedeutet.
Vom 13. Lebensjahr an verlieren junge Menschen im Zuge dieser gewaltigen Umstrukturierung jährlich fast zwei Prozent ihrer grauen Gehirnsubstanz. Die Sexualhormone beeinflussen darüber hinaus nicht nur die Ausreifung der Geschlechtsfunktionen, sondern auch fast alle kognitiven Prozesse, von der Wahrnehmungsverarbeitung bis zur Erinnerungsfähigkeit. Die Wahrnehmung differenzierter menschlicher Eigenschaften tritt zurück zugunsten der Registrierung von Gattungsmerkmalen, Erinnerungen werden romantisch verklärt und verzerrt. Eine Reihe kognitiver Fähigkeiten nimmt plötzlich in beängstigendem Maße ab. Die Fähigkeit, Gesichter zu erkennen, vermindert sich im Zuge der Geschlechtsreife eklatant, ebenso das Erkennen von Stimmen. Noch weniger sind die Heranwachsenden in der Lage, den Gesichtsausdruck anderer Menschen richtig (oder überhaupt) zu deuten und damit soziale Situationen adäquat einzuschätzen. Wenn wir bedenken, was dies für die sozialen Kompetenzen bedeutet und welche Verunsicherungen für die Heranwachsenden hieraus hervorgehen, können wir vielleicht manche pubertäre Verhaltensweise besser verstehen. Auch die veränderte Wirkung der Botenstoffe beeinflusst das Befinden der jungen Menschen. Durch den Verlust etwa eines Drittels der Dopaminrezeptoren im Gehirn vermindert sich dessen aktivierende Wirkung. Was das für die Aufmerksamkeitsfähigkeit und die Motivationslage der Heranwachsenden bedeutet, kann man sich gar nicht eindringlich genug vor Augen führen. Parallel dazu steigt die Empfindlichkeit der anderen Organe für verschiedene Substanzen des Noradrenalinsystemes stark an, was die Stressanfälligkeit und Kurznervigkeit junger Menschen noch erhöht. Die häufige Übermüdung, die durch Veränderungen des Schlafrhythmus auftritt, und die starke Neugier und Risikofreudigkeit dieses Alters lassen die Attraktivität psychoaktiver Substanzen für junge Menschen anziehender erscheinen. Schlaflosigkeit, Müdigkeit in der Schule, Antriebsschwäche, Überforderung, Stimmungslabilität: ein Teufelskreis, der anfällig macht für den Reiz von Schlaf- oder Aufputschmitteln. Und wenn man deren Wirkung erst einmal kennengelernt hat, ist es nur noch ein kleiner Schritt, sie zur Steigerung der »Leistungsfähigkeit« zu missbrauchen.
Riskante Entscheidungen
Der Umbau des Gehirns Heranwachsender verläuft von den hinteren Bereichen, wo unsere Sinneseindrücke zuerst verarbeitet werden, über das »limbische System« und die Zentren unseres Belohnungssystems langsam nach vorne und ergreift erst zum Schluss die oberen Regionen des frontalen Großhirns. Das Belohnungssystem in unserem Gehirn entwickelt sich sehr früh in der Pubertät und sorgt dafür, dass Erfolge oder angenehme Erfahrungen zu einem Endorphinkick führen, den man dann immer wieder haben möchte, für dessen Wiederholung man aber, bedingt durch die Gewöhnungstendenz der Opiatrezeptoren im Gehirn, immer stärkere Reize benötigt. Die hierarchisch höher gelegenen Zentren des limbischen Systems und die Stirnhirnrinde selbst haben dagegen hemmende Wirkung auf unser gefühlsgesteuertes Verhalten. Sie bremsen die unmittelbar aus einem Körpergefühl heraus entstehende Impulsivität. Sie lassen uns zögern, wenn wir zum Beispiel aus einem kribbelnden Wohlgefühl heraus eine Dummheit begehen wollen, und ermöglichen uns, zuvor noch ein zweites Mal darüber nachzudenken. Diese Anteile reifen aber erst viel später aus. Aus dieser zeitlichen Entwicklungsverzögerung erklären sich die Sensationslust und das riskante Verhalten junger Menschen, die oft selbstzerstörerische Formen annehmen. Wenn ein Heranwachsender während der Pubertät eine Entscheidung trifft, tut er dies typischerweise aufgrund des Gefühls, das er hinterher erwartet. Wenn er einmal Bauchschmerzen bekam, nachdem er ein Mädchen angesprochen und dieses ihn ausgelacht hat, wird er beim nächsten Mal, wenn er vor der gleichen Entscheidung steht, schon vorher wieder empfinden, wie es ihm mit den Bauchschmerzen ging, und diesmal vielleicht gar nicht erst den Mut zu einem Annäherungsversuch aufbringen. Wenn er dagegen beim ersten Bungee-Sprung den Endorphin-Kick seines Belohnungssystems erlebt hat, wird er sich künftig vor der Entscheidung über das Für und Wider ähnlich riskanter Aktionen unbewusst vorher stets an dieses Wohlgefühl erinnern.
Der mühsame Wiederaufbau
Bis Entscheidungen zuverlässig besonnen und an Langzeitzielen orientiert getroffen werden können, dauert es. Die vordere Hirnrinde braucht bis in die Zwanzigerjahre, um in der Entwicklung hinterher zu kommen und regelhaft in Entscheidungsprozesse eingeschaltet zu werden. Zuvor sind Heranwachsende zwar nicht per se unfähig, rationale Entscheidungen zu treffen, aber in emotionalen Situationen, zum Beispiel in Anwesenheit Gleichaltriger oder bei Aussicht auf Belohnung, beeinflussen mit großer Wahrscheinlichkeit Belohnungsmotivation und Emotionen die rationalen Prozesse. Erst wenn dieser Umbau abgeschlossen ist, darf man nach einer individuellen Moralität hinter den Handlungen junger Menschen suchen. Vorher leben in ihrem aufblühenden Gedankenleben zwar oft die höchsten ethischen Ideale, doch im Verhalten findet sich davon nur wieder, was ihnen selbst persönliches Wohlgefühl bereitet.
Können »Erwachsene« helfen?
Durch die tiefgreifenden Verunsicherungen hindurch, die von diesen inneren Umbrüchen ausgelöst werden, suchen die Heranwachsenden nach ihrem autonomen Verhältnis zur Welt. Rudolf Steiner hat das Entwicklungsziel der Pubertät die »Erdenreife« genannt. Wir können ihnen dabei helfen, indem wir Situationen schaffen, wo die Welt selbst sie in ihren Handlungen belehrt und korrigiert.
Wenn ein Werkstück, beispielsweise ein von ihnen hergestellter Kasten, an den Ecken nicht zusammenpasst, weil die Verbindungen nicht ineinander greifen, zeigt ihnen die Realität selbst und nicht ein in ihren Augen fragwürdiger Erwachsener, dass sie einen Fehler gemacht haben. Ihre eigene Beziehung, die sie durch ihre Handlung mit der Welt aufgenommen haben, ist wirksam und kann ihnen Orientierung geben. Und noch wichtiger ist es, dass wir selbst ihnen innerlich wahrhaftig entgegentreten. Wenn ein Grundgefühl diese Phase des inneren Umbaus prägt, ist es die innere Einsamkeit, das Unverstandensein, das die Jugendlichen schmerzvoll (manchmal auch romantisch verklärt) erleben. In plötzlichen Verschmelzungstendenzen versuchen sie immer wieder, ihm zu entkommen, aber sie werden es doch nicht los. Wir können es ihnen auch nicht nehmen, denn diese Erfahrung gehört elementar zum Entwicklungsschritt, den sie machen. Wenn auch Erwachsene immer weniger im Zentrum des Interesses stehen, ist ihre Präsenz im Leben der Heranwachsenden enorm wichtig und wird intensiv
gesucht, wenn auch auf eigenwillige Art und manchmal zu unkonventionellen Zeiten. Aber wenn man die Geistesgegenwart hat, eventuell auch einmal mitten in der Nacht zur Verfügung zu stehen, sind oft tiefe Begegnungen möglich. Wir können ihnen helfen, indem wir ihrer sich differenzierenden Seelenwelt von außen etwas Halt und Struktur geben. Durch authentische persönliche Begegnungen können wir ihnen Reibungsflächen bieten, an denen sie ihre Grenzen erleben. Unsere eigene Klarheit und unnachgiebige Festigkeit in Bezug darauf, was wir selbst für richtig halten, helfen ihnen, im Tumult ihrer Identitätskrise einen eigenen Standort zu finden.
Heranwachsende suchen nicht selten sehr offensiv nach dieser Reibungsfläche. Und wenn sie niemanden finden, der ihnen eine echte Persönlichkeit entgegenstellt, attackieren und demontieren sie ihr Gegenüber, bis sie in ihm doch noch finden, was sie suchen, oder bis alles zerstört ist, schlimmstenfalls sie selbst. Je besser es uns gelingt, ihnen jenseits unserer Masken und Statussymbole entgegenzutreten, als Menschen mit einem inneren Anliegen, desto mehr helfen wir ihnen, am Widerstand zu sich selbst zu kommen.
Wenn wir uns immer wieder etwas von den fundamentalen inneren Veränderungen vor Augen führen, die sie in dieser Zeit zu bewältigen haben, wird uns dies vielleicht helfen, die innere Kraft und Gelassenheit aufzubringen, die wir dafür brauchen.
Zum Autor: Dr. Bernd Kalwitz ist Schularzt an der Rudolf Steiner Schule Bergstedt/Hamburg. Von der Redaktion gekürzter Beitrag. Die Originalfassung kann beim Verfasser angefordert werden. E-Mail: bernd.kalwitz@me.com
Literatur: Walter J. Freeman: Societies of Brains. Hillsdale 1995 | Manfred Spitzer: Vorsicht Bildschirm! Stuttgart 2005