Mit Krummen und Geraden auf der Überholspur

Alexander Heinz

Der Geometrie kommt im Lehrplan der Waldorfschule – im Vergleich zu den Regelschulen – ein bevorzugter Platz zu. Schon in der ersten Klasse werden geometrische Fertigkeiten im Formen-Zeichnen vorbereitet, später in der Darstellenden Geometrie (Technisches Zeichnen) aufgegriffen sowie in Teilbereichen der Mathematik, der Chemie und in der Gestaltung (Kunstgeschichte). Praktische Anwendung findet sie im Werkunterricht in Aufriss-Zeichnungen, im Feldmess-Praktikum in Kartierungen oder im Geographie-Unterricht in den Projektionsentwürfen des Globus.

Warum Geometrie?

Die souveräne Orientierung im Raum ist ein wichtiges Lernziel der Geometrie. Dies besonders heute, wo viele Menschen sehr viel Zeit an Bildschirmen verbringen, die ihnen kein räumliches Vorstellungsvermögen abverlangen. Diese Fähigkeit liegt, wenn sie nicht bewusst geschult wird, brach und verkümmert. Die Deutsche Mathematiker-Vereinigung beklagt einen eklatanten Rückgang der Kompetenzen des räumlichen Denkens und Vorstellens. Wie wichtig diese Kompetenzen auch volkswirtschaftlich sind, zeigt ein Blick nach Österreich: das Fach Darstellende Geometrie ist dort ein eigenes Unterrichtsfach, das man sogar studieren und lehren kann. Der für den Außenhandel außerordentlich wichtige Maschinenbau profitiert von dem hohen geometrischen Bildungsniveau der österreichischen Schüler. Dies ist nicht zuletzt der Zusammenarbeit der österreichischen Geometer an Schulen und Hochschulen zu danken, die sich zum Fachverband der Geometrie (ADG) zusammengeschlossen haben. In Deutschland dagegen wird der Geometrie oft nur noch ein Platz zwischen den (Lehr-)Stühlen von Mathematik, Kunst, Design, Architektur und Ingenieurwesen zugestanden.

Man kann das aber auch anders herum betrachten: die Geometrie als Raum, in dem die verschiedenen Stühle Platz finden. Die Deutsche Gesellschaft für Geometrie und Grafik (DGfGG) bietet ein Forum dieser Art zum Austausch von Kenntnissen und Kompetenzen in der Geometrie. Sie bietet ein übernationales Netzwerk von Geometern an Schulen und Hochschulen und – insbesondere bei den jährlichen Tagungen – gegenseitigen Austausch. 

Mit dem Oloid wird Geometrie sportlich 

Ein anschauliches geometrisches Beispiel für Gerades und Krummes ist das Oloid. Es besteht aus Geraden und sieht trotzdem rund aus. Es rollt über eine ebene Fläche in einer geraden Laufrichtung mit »krummen« rhythmischen Ausschlägen nach rechts und links. Es ist nicht bloß unter geometrischen Gesichtspunkten ein merkwürdiges Gebilde, es lässt sich in der Technik ökologisch sinnvoll einsetzen.

Es ist aber auch »objektiv« schön. Wenn es groß genug ist, lassen sich damit Erfahrungen der Balance und der Körperarbeit machen. Manchmal kann man sogar mit dem Oloid über die Überholspur der Autobahn fahren. Es ist geeignet, die thematische Vielfalt der Geometrie fächerübergreifend zu demonstrieren. 

Mit dem Oloid durch Raum und Zeit 

Das von Paul Schatz (1898-1979) entdeckte Oloid ist ein Wälzkörper, der aus der Umstülpung des Würfels hervorgeht.

Untergliedert man den Würfel in eine sechsgliedrige Gelenk-Kette und zwei Steckriegel, die man dem Würfel entnimmt, wird die Gelenk-Kette frei beweglich. Hält man ein Element ortsfest und bewegt die Kette darum herum, bildet die Bahnfläche einer Würfeldiagonalen im zeitlichen Verlauf die Oberfläche des Oloids. Ähnlich einem Scheibenwischer, der auf der Scheibe eine Sichtfläche erzeugt. Beim Oloid kehrt die Diagonale als »Scheibenwischer« nach einem vollen Bewegungszyklus schließlich wieder in seine Ausgangslage zurück, und hat dabei einen in sich geschlossenen Raum umschlungen: das Oloid. Das Oloid ist also eine Raum-Zeit-Form, eine Form, die sich erst durch die zeitliche Bewegung im Raum ergibt. In ihrer sich seitlich vollziehenden Bewegung bleibt die Würfel-Diagonale in ihrer Länge gleich und wird auch nicht gebogen Nicht gleich offensichtlich, jedoch gut überprüfbar ist, dass das Oloid ein Einflächner ist. Deshalb lässt es sich auch auf der Ebene abrollen und kein Punkt seiner Oberfläche bleibt dabei unberührt – im Gegensatz zu Kugel, Kegel oder Zylinder. In der Wasserwirtschaft hat sich das Oloid einen Platz erobert in der Belüftung und Umwälzung von stehenden Gewässern. Durch seine rhythmische Bewegung kann es etwa sechs Siebtel gegenüber der herkömmlichen Technik einsparen und beweist damit eindrucksvoll, dass Rhythmus Kraft ersetzt. Zugleich wirkt sich das Oloid schonend für die Mikroorganismen im Wasser aus. Maschinen dieser Art werden hergestellt von der Firma Hortimax in den Niederlanden. Sie finden Anwendung in Kläranlagen und Aquarien. Praktisch kann man ein Oloid aus einem Quader mit den Außenmaßen von 1 x 1 x (3:2 x √2) herstellen. Das geht im Kleinen in Speckstein oder Holz, lässt sich aber auch im Großen ausführen. Wenn man den Atem dazu hat sogar in eineinhalb Tonnen Sandstein. Auch im letzteren Fall lässt es sich von Hand bewegen und trefflich darauf balancieren (von außen). In einem anderen Fall kann man es aber auch von innen balancieren. Dazu braucht man kein Oloid auszuhöhlen. Wichtig ist hier die Tatsache, dass das Oloid immer nur auf einer geraden Strecke aufliegt, und folglich immer nur über gerade Strecken abrollt. Auf einer ebenen Fläche reicht es, Anfang und Ende der Geraden zu haben. Die Konstruktion des Roloids ermöglicht eben das: Die Endpunkte der Geraden verschieben sich beim Abrollen entlang von vier Linien auf dem Oloid. Deshalb reicht es zum Abrollen, ein Gestänge aus genau diesen Linien zu haben, das diesen Linien folgt: das Roloid. Beim wahrscheinlich größten nichtvirtuellen Großereignis dieses Jahres war das Oloid dabei. Im Rahmen der Ruhr 2010, Kulturhauptstadt Europas, wurde die meist befahrene Autobahn Deutschlands, die A40, für einen Tag gesperrt. Genug Zeit, um mit dem Oloid auf die Überholspur zu fahren. Der Verfasser konnte an seinem Geburtstag diese Gelegenheit wahrnehmen, drei Millionen Gäste schauten zu. Dies führte zum »schönsten Stau aller Zeiten«, so der Aufmacher der deutschen Boulevard-Zeitung, die einen Sinn hat für Themen, bei denen es klemmt. Sobald diese sich einigermaßen über die sechzig Kilometer verteilt hatten, gab es genug Platz für das (R) Oloid, der bis zum Ende auch rege genutzt wurde. Ein Roloid wird durch Verlagerung des Schwerpunkts bewegt. Athletische Menschen sind im Vorteil. Es kommt darauf an, sich steif zu machen und die Spannung zu halten. Mit Beckengurt geht es einfacher, und man kann nicht hinausfallen. Fahrradhelm, Knie- und Ellenbogenschoner sind empfehlenswert. Man kann auch zu zweit darauf balancieren und auch von einem anderen bewegt werden. Auch an unserer Schule ist das Oloid beim Sommerfest gut angekommen. Nachahmer werden gesucht. Vielleicht ist das ja etwas für die nächste Olympiade: Roloid-Rennen? Oder lieber gleich eine richtige (R)olympiade? 

Literatur:

Paul Schatz: Die Welt ist umstülpbar. Rhythmusforschung und Technik, Sulgen/Zürich 2008 | Paul Schatz: Rhythmusforschung und Technik, Stuttgart, 1998

Links:

oloidblog.blogspot.com | Geomenta.com | Umstülper.deDGfGG.de | ADG.at |