So sprach Konfuzius, der große Lehrmeister der chinesischen Kultur, 500 Jahre vor Christi Geburt. Ende der 1950er Jahre prägte der Soziologe Seymour Martin Lipset den Begriff »Extremismus der Mitte« für politische Strömungen, die aus der Mitte der Gesellschaft entstehen. Die Frage nach Extrem und Mitte ist so alt wie brennend aktuell, nur die Antwort müssen wir immer wieder neu finden.
»Polarität und Steigerung« war für Goethe eine Schlüsselidee für die Erkenntnis der Natur. In ihren Erscheinungsformen erkannte er Gegensätze, die sich wechselseitig bedingen, gegenseitig steigern und in einer Art geistigem Urbild offenbaren. In der Metamorphose der Blätter einer Pflanze – vom Keim über den Spross bis zum Kelch und zur Blüte – wird in der Zeit sichtbar, was als wirkende Kraft in jedem Augenblick gestaltbildend vorhanden ist. Das Grundprinzip alles Lebendigen, der Wandel, wird durch Gegensätze möglich, die auf einer höheren Stufe wieder zusammengeführt werden und dadurch Neues möglich machen.
Was bei den Tieren durch ihre leibgebundenen Instinkte, Lust und Unlust, bei den Pflanzen durch ihr Leben am Berührungspunkt von Himmel und Erde geschieht, bedarf beim Menschen der aktiven Mitarbeit, um sich zu offenbaren: sein Wesen. Schon das Aufrichten und Laufen lernt ein Kind nur durch Nachahmung, immer wieder, unverdrossen, bis es sich in diesem labilen Gleichgewicht halten und neue Räume des Wahrnehmens und Handelns erobern kann. Wenn Lisa oder Noah später Einrad fahren, üben sie weit mehr, als nur nicht hinzufallen. Sie üben, die Balance zu halten und damit, Mensch zu sein.
In Rudolf Steiners grandioser Skulptur des »Menschheitsrepräsentanten« steht die Gestalt des Christus zwischen zwei gewaltigen Wesen, deren eine ihn in eine rein geistige, erdenflüchtige Sphäre hinauf- und die andere in eine eisige, rein materielle Existenz herabziehen will. Aufrecht stehend hält er diese Mächte mit einer erkennbar aus der Mitte seines Herzens kommenden Geste in einem fast körperlich spürbaren, dynamischen Gleichgewicht.
Balance ist die vielleicht schwierigste, aber auch höchste Kunst des Menschseins. Je weiter die Herzen, je tiefer die Gefühle, je umfassender die Erkenntnis, desto größer ist auch die Spannung zwischen ihren Polen. Aber nicht der Ausschluss der Extreme, sondern die Stärkung der inneren Kraft, sie im Gleichgewicht zu halten, ist die Grundlage unserer Freiheit. Ein »Extremismus der Mitte« kann nur entstehen, wenn die individuelle Mitte geschwächt ist und verführbar wird. Deshalb braucht Erziehung viele Gelegenheiten, die Welt in ihrer Tiefe, Schönheit und Weite immer differenzierter auszuloten, mit den Gefühlen, Gedanken und Entschlüssen. Im Stillstand werden Maß und Mitte zu »Mittelmaß«, in der Bewegung zur Balance. Erziehung ist Bewegung und Balance.
Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners und der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung – Haager Kreis