Auch innerhalb dieser Kategorien gibt es eine Vielfalt individueller Ausdrucksformen. Leider ist ASS zu einer diagnostischen Allzweckwaffe geworden. Um als atypischer oder Asperger- Autist durchzugehen, genügt wenig. Man muss nur etwas introvertiert und sonderbar wirken und sich schwer damit tun, »normal« zu kommunizieren.
Normale Kommunikation ist Kommunikation im Rahmen der allgemeinen Gepflogenheiten. Wer die Gleichung »normale Kommunikation = gesunde Kommunikation« aufmacht, sollte noch einmal nachdenken. Man kann nämlich zu dem deprimierenden Schluss kommen, dass die »normale« Art, wie Menschen in unserer Gesellschaft miteinander umgehen, ein kommunikatives Desaster ist.
Abweichungen von dieser Norm mängeldiagnostisch zu etikettieren, steht uns eigentlich gar nicht zu. »Es gibt Menschen, die wir aufgrund unserer Wahrnehmung […] im Spiegel der Normen, in dem wir sie sehen, einem Personenkreis zuordnen, den wir als […] behindert bezeichnen«, so der Erziehungswissenschaftler Georg Feuser. Ist das, was als autistisch angesehen wird, tatsächlich immer eine »Störung«? Oder fühlt sich hauptsächlich die Mitwelt gestört? Zumindest mit Blick auf leichtere Formen lässt sich darüber trefflich streiten. Man neigt ja heute mehr denn je dazu, alles, was nicht der Norm entspricht, zu pathologisieren – und schafft dadurch erst Leid. Ronald D. Laing sagte einmal: »Die ›normal‹ entfremdete Person hält man für gesund.« Und Erich Fromm gab zu bedenken: »Entwickelt [jemand] ein tiefergehendes oder anderes System der Orientierung und Hingabe [als es üblich ist], wird er als verrückt angesehen.«
Wie schnell die Diagnose Autismus an Kinder vergeben wird, ist erstaunlich und ärgerlich. ASS liegt unter den Mode-Psychodiagnosen ganz vorn, gleichauf mit AD(H)S – gern im Doppelpack. Alessia Schindari vom Sozialpädiatrischen Zentrum des Kantons-Spitals Winterthur mahnt, man müsse dringend klare, einheitliche Kriterien für Autismus festlegen, »bevor die Diagnose vollkommen inflationiert wird«. – Ursprünglich bezeichnet das Wort Diagnostik die Kunst, eine Symptomatik zu »durch-schauen«, ihr auf den Grund zu gehen, sie tiefer zu verstehen; vielleicht sogar das intuitive Vermögen, äußere Zeichen als Schicksalsschrift zu entziffern. In der Realität sind Psycho-Diagnosen oberflächliche Kategorisierungen, die oft mehr verhüllen, als erklären. Mit Recht stellt Matthias Wenke seinem vortrefflichen Buch über AD(H)S die Frage voran: »Diagnose statt Verständnis?« Wenn mal wieder ein Kind mit einer an den Haaren herbeigezogenen Autismus-Diagnose bei uns auftaucht, frage ich mich das auch.
Literatur: A. Schindari: ASS – eine neue Modediagnose? http://peterlienhard.ch/download/111100_ASS_Schindari.PDF | E. Rohrmann: Mythen und Realitäten des Anders-Seins, Wiesbaden 2007; daraus die Zitate von Feuser, Laing und Fromm. | M. Wenke: ADHS: Diagnose statt Verständnis? Wie eine Krankheit gemacht wird, Frankfurt 2018