Ich sitze mit der dreizehnjährigen Leonora in der Pause im Klassenzimmer. Ich habe sie herbestellt, weil sie in letzter Zeit dem Unterricht kaum noch folgt und stattdessen den um sie sitzenden Jungs die Köpfe verdreht und mit den Mädchen kichert und tuschelt. »So kann das nicht weitergehen«, sage ich. »Warum nicht?«, wirft sie mir schnippisch entgegen. »Ich rede nun mal gern mit meinen Nachbarn. So bin ich halt!« Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, was sich mir hier gerade offenbart. Redet man so mit einem Lehrer, den man achtet und respektiert? Aber es geht ihr, so vermute ich, gar nicht um die Störung des Unterrichts. Der Satz, von dem sie will, dass ich ihn höre, ist »So bin ich halt!« – »Ja, das kann ich verstehen«, antworte ich. »Aber so bist du eben gerade in diesem Moment. Wäre doch schade, wenn du dich nicht weiter entwickeln würdest und dabei musst du darauf achten, dass du die Entwicklung deiner Nachbarn nicht behinderst!« Leonora zeigt sich zunächst wenig beeindruckt und schimpft noch ein paar Tage mit ihren Freunden und am Küchentisch darüber, dass ich sie an ihrer Entfaltung hindern will. Allmählich aber ändert sich ihr Verhalten und das gemeinsame Fahrwasser wird wieder ruhiger.
In seiner Entwicklung stößt das Kind immer wieder auf Widerstände und Krisen, nach deren Überwindung ein deutlicher Fortschritt spürbar ist. Beispiele hierfür sind die Trotzphase der Zweijährigen, der Eintritt in die Schule oder der erste Einschlag der aufkommenden Gewissenskräfte, mit denen der junge Mensch kurz vor der Pubertät konfrontiert wird. Nehmen Eltern, Erzieher und Lehrer die Übergänge zwischen diesen Entwicklungsschüben aufmerksam genug wahr? Sind die Strukturen unserer Einrichtungen dazu geeignet, auf subtile, aber biographieprägende Veränderungen so einzugehen, dass sich das Kind unterstützt und begleitet fühlt? Arbeiten Krippen, Kindergärten und Schulen aufmerksam genug zusammen, um Elternhäusern ein beruhigendes Gefühl der Kontinuität zu vermitteln?
Pulsierendes Dornach
Aus diesen Fragen entstand der Impuls für die internationale Tagung »Übergänge in der Kindheit« am Goetheanum in Dornach, die in der Woche vor Ostern stattfand. 520 Menschen aus 52 Ländern trafen hier ein, und um jeden der mit Koffern und Rucksäcken beladenen Erwachsenen konnte man eine unsichtbare Wolke von Kindern ahnen, die sie aus ihrem Arbeitsfeld mitgebracht hatten. Die Präsenz dieser Kinder war in Vorträgen, Arbeitsgruppen und Tischgesprächen immer spürbar. Eine im täglichen Leben seltene Vielfalt prägte die Atmosphäre: Dolmetscher übersetzten die Vorträge simultan ins Englische, Französische, Ungarische, Russische, Spanische und Chinesische. International eingefärbtes Englisch war die inoffizielle Sprache, wenn sich Menschen miteinander verständigten. Hierin zeigte sich eindrucksvoll der neue Charakter des Goetheanums: Wurde es früher als eine Art Zentrale betrachtet, eine Quelle, von der aus Impulse in die Welt flossen, so ist es inzwischen zu einer Stätte der Begegnung geworden. Menschen aus Asien und Amerika, aus Afrika und Australien treffen sich hier und lernen voneinander. Europa nimmt sich zurück und wird zur Mitte, zum Treffpunkt der Kulturen. Nicht zufällig ist die Formensprache des Goetheanum dem menschlichen Ohr nachempfunden: Hier kann man einander zuhören!
Vielfalt zeigte sich auch in der Zusammensetzung der Arbeitsgruppen: Selten treffen sich im Schulalltag Waldorfpädagogen von der Krippe bis zur Oberstufe, um vorurteilsfrei miteinander an pädagogischen Themen zu arbeiten. Hier wurde dafür Raum geschaffen. Den Leitern der Pädagogischen Sektion, Florian Osswald und Claus-Peter Röh, ist diese Inklusivität Mission: »Wir sind eine einzige Bewegung«, sagt Osswald, »und unsere Schule geht von 0 bis 19. Alle, die hier arbeiten, haben das gleiche Anliegen!« Clara Aerts von der internationalen Kindergartenvereinigung IASWECE ergänzt: »Früher hatten die Kindergärten keine rechte Stimme in der Waldorfwelt. Das ändert sich jetzt. Wir alle arbeiten daran, die Freiheit des Menschen zu verteidigen.« Ihre Kollegin Susan Howard fügt hinzu: »Wenn wir uns in unsere eigenen Bereiche zurückziehen, laufen wir Gefahr, in überlieferten Traditionen stehenzubleiben. Nur durch gemeinsame Arbeit, durch regelmäßigen Austausch können wir uns weiterentwickeln und den heutigen Kindern gerecht werden.«
Warum besuchen Menschen Tagungen wie diese?
Die Gebärde des Verneigens, die allen Eltern von kleinen Kindern vertraut ist, gibt einen Hinweis: Nicht nur das Kind wächst in unserer Obhut, auch wir richten uns an ihm auf, innerlich wie äußerlich. Clara Aerts erinnert an diesem Dornacher Gründonnerstag an die Fußwaschung der Jünger und ruft uns Rudolf Steiners Aufforderung ins Gedächtnis, vor dem Wesen des Kindes Ehrfurcht zu empfinden. Wie ich die Welt betrete und mich in den ersten drei Jahren mit ihr verbinde, ist richtungsweisend für mein ganzes Leben. Am Engpass, den das Kind im Geburtskanal erlebt, am häufigen Umfallen und Wiederaufrichten vor den ersten freien Schritten erfährt es Grenzen, kann es seine Seelenkräfte stärken und trainieren. Durch eine geplante, da praktische Kaiserschnittgeburt oder durch aktives, gemeinsames Üben des Laufens an der Hand machen wir es dem Kind nur oberflächlich leichter. In Wirklichkeit nehmen wir ihm die Möglichkeit, die Widerstände der Welt aus eigenem Impuls zu überwinden. Michaela Glöckler betonte das in ihrem Tagungsbeitrag: Das Kind wird nicht geboren – es gebiert sich selbst! Dieses Prinzip gilt auch für alle folgenden Übergangs- und Entwicklungsprozesse: die Zahnung, die Entwicklung des Denkens, das Schreiben- und Rechnenlernen, auch die allmähliche Emanzipation vom Elternhaus geschehen nur dann gesund, wenn der Zeitpunkt stimmt. Forcieren kann man so etwas nicht.
Von »Do as I do« zu »Do as I say«
Von besonderem Interesse während der Tagung war die Frage nach der Schulreife des sechs- oder siebenjährigen Kindes und wie der Übergang von Kindergarten in die Schule gestaltet werden kann.
Polina Rasmussen betreut seit sechs Jahren die »Kindergartenklasse« der Kopenhagener Waldorfschule. Eine ihrer Aufgaben ist es, die Kinder zur Gruppe zusammenwachsen zu lassen. Der Tag beginnt mit einem Singkreis und einer Geschichte, bevor die Kinder sich ins freie Spiel verteilen. Zur gemeinsamen handwerklichen und künstlerischen Aktivität kommen sie wieder zusammen, dann wird gespielt, aufgeräumt und gekocht, und das Mittagessen führt alle an den gleichen Tisch. Nach der Mahlzeit geht es nach draußen in die freie Bewegung, bevor gegen 14 Uhr ein weiterer Singkreis den Abschluss bildet. Die etwa 25 Kinder lernen so das rhythmische Ein- und Ausatmen des Schultages. Auch ein wenig Autorität ist schon zu spüren. Wirkt die Kindergärtnerin noch rein durch ihr Vorbild, so gewöhnt Polina Rasmussen die Kinder im Lauf des Jahres daran, dass ihre verbalen Aufforderungen verbindlich sind. In der Tagungssprache lässt sich das schön auf den Punkt bringen: Von »Do as I do« zu »Do as I say«.
Nach den Osterferien kommt der Lehrer oder die Lehrerin der zukünftigen ersten Klasse in die Gruppe und lebt und arbeitet bis zu den Sommerferien mit, hat also entscheidenden Anteil daran, wie diese Kinder im Herbst ihre Schullaufbahn beginnen werden. Im September sind die Kinder zu einer festen Gruppe zusammengewachsen und haben die Lehrerpersönlichkeit kennen und lieben gelernt, die sie über die nächsten acht Jahre begleiten wird. Sie sind bereit, Autoritäten anzuerkennen und können den Kindergarten »loslassen«.
Grenzfluss und Gewissensstimme
Auch die sieben Jahre zwischen Zahnwechsel und Geschlechtsreife sind durch Entwicklungskrisen und -schübe charakterisiert. Der erste dieser Momente, generell im zehnten Lebensjahr angesiedelt, ist in der Waldorfliteratur als »Rubikon« ein Begriff. Nach dem Überschreiten dieses metaphorischen Grenzflusses hat der Mensch ein Stück Unschuld und Bildhaftigkeit verloren. Ein schmerzhafter Verlust, der aber notwendig ist, damit sich das menschliche Ich mehr und mehr auf der Erde etablieren und wohlfühlen kann. Man muss zwischen Ich und Welt differenzieren können, um in seiner Umgebung sinnvoll aktiv zu werden. Ebenso bedeutsam ist, in der Regel kurz vor dem 12. Geburtstag, eine weitere Krise, nach der der heranwachsende Mensch sich seines Gewissens wesentlich bewusster wird. Er lernt jetzt, auf seine innere Stimme zu lauschen und seine Mitmenschen vergleichend zu beobachten. In dieser Zeit werden die engsten Freundschaften geschlossen – jeder von uns braucht jemanden, der ihn vorurteilslos akzeptiert und »versteht«. Auch die eigene Rolle in der Welt, die Fähigkeiten und Schwächen, werden hinterfragt. Große Unsicherheit kennzeichnet diese Phase, und unsensibles Verhalten der Erwachsenen führt oft zu bitteren Auseinandersetzungen. Das sind noch nicht die Flegeljahre! Nach kurzem Wanken findet sich wieder Boden unter den Füßen, und wer sein Talent gefunden und akzeptiert hat, kann in den nächsten zwei Jahren richtig glänzen – als Athlet oder Akrobat, Musiker, Maler oder Mechaniker.
In verschiedenen Gesprächen am Goetheanum wurde klar, warum jeder dieser Übergänge nach neuen Ansätzen verlangt: Die Kinder entwickeln sich und verlangen zu Recht, dass ihnen nicht mit überholten Methoden begegnet wird. Die Frage stellt sich daher, ob für jede dieser Phasen neue Menschen zur Verfügung stehen sollten, die über ausgeprägte Sachkenntnis der entsprechenden Altersstufe verfügen. In vergangenen Ausgaben der »Erziehungskunst« wurden verschiedene Ansätze dargestellt, nach denen ein Klassenlehrer seine Klasse nur bis zur sechsten Klasse führt oder die Mittelstufe bis zum 16. Lebensjahr ausgeweitet wird und Oberstufenlehrer in ihr unterrichten. Gefühlter Konsens in Dornach war allerdings, dass idealerweise die Lehrerpersönlichkeiten nicht wechseln, sondern sich verändern und »mitwachsen« sollten: Ich kann mich noch so gut mit Dreizehnjährigen im Allgemeinen auskennen: Das über sieben Jahre gewachsene Verständnis für das individuelle Kind ersetzt diese Kompetenz nicht.
Darum gehen Waldorfpädagogen auf Tagungen: Der lebendige, kreative Austausch inspiriert uns, an der Entwicklung der uns anvertrauten Kinder und damit an unserer eigenen Entwicklung effektiver und nachhaltiger zu arbeiten.
Zum Autor: Sven Saar ist Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Wahlwies in Stockach.