Klassenzimmer

Musik ist Freiheit

Matthias Thiemel
Musikunterricht in der Widar Schule Bochum. Foto: © Florian Danner

Die zwölf Sinne des Menschen verdienen und benötigen Ausbildung und Pflege, zumal im digitalen Zeitalter. Seit den 1980er Jahren ist dargelegt, dass in der frühen und kontinuierlichen Musikpraxis aufgrund der verbreiteten »Gleichgewichtsstörungen im physischen, organischen, seelischen und geistigen Bereich« und des Auseinanderfallens traditioneller Bindungen wie »Familie, Schulklasse, Berufsgruppe, religiöse und Volks- Zusammenhänge« eine geradezu »therapeutische Aufgabe harmonisierender und sozial-bindender Art« zukommt (Julius Knierim). 

Musik gehört dem Menschen und zum Menschen – wie schon zu Zeiten des Orpheus-Mythos und König David in Israel! Die Corona-Jahre haben das Problem eher verschärft als gelöst. Wir müssen daher die in den 1980ern aufgeworfene Frage neu stellen: »Werden genügend verantwortungsvolle Menschen da sein, die in selbstloser Weise die im Menschen verborgenen Urkräfte der Musik aus den Tiefen heraufholen können und sie zu mitmenschlicher Wirkung bringen? Heilen durch Musik, in früheren Zeiten keine Frage, muss dem gegenwärtigen Forscher, dem Mediziner wie dem Musiker, ein ernstes Problem sein«.1 

Chronisch fehlen in Deutschland jedoch versierte Musiklehrkräfte; an den staatlichen Grundschulen derzeit über 20.000 Musiklehrer:innen und an deutschen Waldorfschulen immer einige Dutzend. Gleichwohl gilt: »Es gibt keine Alternative zur Musik« (Sergiu Celibidache). Das wusste man im alten China, im klassischen Griechenland, zu Zeiten Shakespeares. 

Medizinisch fundierte Forschungen deuten heute erneut an, was Rudolf Steiner rhetorisch zugespitzt hat: »Wenn mehr und vor allem richtiger gesungen würde, so würden die Verbrechen zurückgehen.«2 

Wahres Singen bleibt über alle Moden anthropologisch souverän. Und es entspringt nach unüberholter Einsicht nicht bloß dem Physischen, sondern dem Herzen.3 Inwiefern das Herz dem Menschen Wahrnehmungsorgan werden kann, wusste man zu Zeiten Bachs und Beethovens, ebenso wie in Indien und Afrika, wo selbst Trommeln »singen« können.

Shakespeares oder Steiners Einsichten in den unersetzlichen Wert der Musik betreffen nicht nur justiziable Kriminalgeschichten, sondern auch all die Verbrechen an Welt und Umwelt sowie die epidemisch gewordenen Mechanismen, die das höhere Selbst zu spalten oder zu korrumpieren drohen. Als wahrlich schutzbedürftig erweisen sich heute die Elemente Erde, Wasser, Luft und der ganze Kosmos; auch die Räume des Seelischen, Geistigen, Ethischen und Sozialen. Und Steiners Sinneslehre scheint mir brandaktuell zu sein.

Was bei Intervallen, Motiven und Themen zwischen den Tönen konkret und diskret sich trennt und verbindet (Adorno: »Musik besteht nicht aus Tönen, sondern aus Intervallen«) hat Analogien in den Zusammenhängen des Sozialen und umgekehrt.4 Mehr noch: Novalis, in dem manche einen der Vorväter der Anthroposophie sehen, wusste: »Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem, die Heilung eine musikalische Auflösung. Je kürzer und dennoch vollständiger die Auflösung, desto größer das musikalische Talent des Arztes.« 

Musik gilt nach wie vor als mancherorts schwer zu unterrichtendes Fach, doch erinnern wir an Hölderlins »Patmos«:

Hören wir, was Jugendliche Ende der 10, Anfang der 11. Klasse in meinem Musikunterricht an der Waldorfschule im Markgräflerland zur Frage »Was bedeutet Musik für mich« äußern.

Schülerinnen:

  • Musik ist Friede, Trauer, Therapie, Lernen aus Texten; Rebellion, Gemeinschaft, Kommunikation; Glück, Bewegung, Befreiung, Spiritualität, Glaube, Religion, Philosophie, Denken, Spaß; Lehre, Tradition, Tanz, Zusammenkommen, Unterhaltung, Vergnügen, Meditation, Kultur. Musik stärkt die Gruppe, Musik stärkt Worte, Musik ist Verbindung. Musik ist eines der wenigen Dinge, wegen welcher noch kein Krieg begonnen wurde und – trotzdem viele Menschen bewegt.
  • Etwas so Emotionales, Verbindendes und Tiefgehendes wie Musik kann man nur fühlen, nicht beschreiben ... Ich beginne zu singen, Lieder, an die ich gerade denken muss und ich ... bin glücklich und behütet.
  • Musik macht deutlich, was man mit bloßen Worten kaum zu beschreiben vermag.
  • Vögel, die pfeifen, sind in gewisser Weise auch Musik.
  • Musik ist eine Leidenschaft, die Menschen helfen kann.
  • Ohne Musik wäre mein Leben nicht lebendig. Auch wenn sie nicht von außen auf mich einwirkt, trage ich sie trotzdem in mir. Wenn ich sie selber spiele oder singe, tauche ich völlig in die Stimmung ein und gebe mich ihr hin.
  • Für mich ist Musik Leben, eine niemals versiegende Inspirationsquelle. Egal, was alles noch passieren wird. Musik ist für die Ewigkeit!

Schüler:

  • Musik hilft und verbreitet Freude.
  • Für mich ist Musik eine Lebensrichtung.
  • Musik ist das wichtigste Verbindungsglied zwischen Mensch und Geist.
  • Musik ist Freiheit, Freiheit ist Musik.
  • Meine favourisierte Musik ist Punk. Punk macht klare Aussagen über vergangene und auch gegenwärtige Probleme und Verbrechen der herrschenden Schicht der Menschheit, z. B. »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland«, »Schweineherbst« oder auch »Demokratie«. Punk ist mehr als eine Musikrichtung, Punk ist eine Lebenseinstellung und keine Modeerscheinung!
  • Musik hört zu, Musik kann sprechen und, dass sie weder bewertet noch wertend wirkt, macht sie so einzigartig.
  • Es gibt Lieder, die mich in glücklichen Situationen nur noch glücklicher machen.
  • Mir wird bewusst: Ein Tag ohne Musik war tonlos und ohne Klang. Vielleicht ist die Musik tatsächlich ein Schlüssel zum Herzen.

Erwachsene, die an Musikhochschulen professionell ausgebildet worden sind und in dem einst geplanten Berufsfeld nicht unterkommen können oder wollen, werden am Waldorfinstitut in Witten dahin geführt, die schulisch wesentlichen Ebenen begreifen und anwenden zu lernen. Das Musizieren steht im Mittelpunkt des musikalischen Lernens: Das mal ernste, mal fröhliche Spiel der Kinder wird wertgeschätzt, gefördert und methodisch einbezogen. 

An bewertbaren Ergebnissen orientiertes »Stoff-Denken« spielt keine primäre Rolle, Leistungsdruck oder Lebensangst werden vermieden. In einer Art Schubumkehr gegenüber staatlichen Ansätzen wird an Waldorfschulen nicht von Theorie und Fachbegriffen ausgegangen,
sondern ästhetische Erfahrung gestärkt, letztlich auch Phänomenologie im Sinne Goethes. 

Waldorf-Musikunterricht versteht sich seit jeher als handlungs- und erlebnisorientiert, ist prozesshaft angelegt, offen und lebendig5. 

Geschickte Hände begünstigen bewegliches Denken und umgekehrt! Musik wird auch in Nachbarschaft zu Handwerk und Instrumentenbau, Schauspiel/Theater und Bildender Kunst gepflegt. Dabei wird die aktuelle, tatsächliche Lebenswelt genutzt – wie eine Quelle.

Was ist das Besondere des postgraduierten Schulmusik-Studiums in Witten?

Das Waldorfinstitut ist im Fachbereich Musik darauf spezialisiert, die individuellen musikalischen Fähigkeiten postgraduiert Studierender zu vertiefen sowie die schulpraktisch wesentliche Methodik zu vermitteln. Das gilt für den Zeitraum von »Alter Musik« bis zu zeitgenössischer Musik, Folklore, Pop und Rockmusik, orientalische Musik sowie Musikkulturen der südlichen Hemisphäre, die in ihrer schulpraktischen Realisierbarkeit einbezogen werden. Ein zweites Studienjahr findet als Waldorf-Langzeitpraktikum mit Musikunterricht in Klassen aller Stufen, in Ensembles, Chören und Schulorchester statt. 

An etlichen Schulen im gesamten deutschsprachigen Raum können Kontakte für eine Anstellung geknüpft werden. Die Nachfrage nach Musiklehrkräften ist hoch und wird durch studierte Schulmusiker:innen nicht abgedeckt. Das postgraduale Musikstudium in Witten spricht daher alle pädagogisch interessierten Absolvent:innen unterschiedlicher Fächer an, die bereits einen Abschluss haben: Bachelor, Master, staatliches Diplom, erstes Staatsexamen etc. 

Das in Witten erworbene »Diplom zum/zur Musiklehrer:in an Waldorfschulen«, berechtigt dazu, an Waldorfschulen das Fach Musik zu unterrichten, wobei Umfang und Radius der Unterrichtsgenehmigung aufgrund unterschiedlicher Regelungen in den Bundesländern vom vorhandenen Abschluss abhängen. Auch hierbei berät das Waldorfinstitut Witten individuell.

Anmerkungen:

1 »Musiktherapie« in: MGG, Supplement, Band 16, Verlag Bärenreiter, Kassel u.a.

2 Jürgen Schriefer: »Leben und Werk von Valborg Werbeck-Svärdström«. Nachrichtenblatt LVII Nr. 6, 10.2.1980, S. 22.

3 Vgl. Wolfgang Fuhrmann: Herz und Stimme. Innerlichkeit, Affekt und Gesang im Mittelalter, Kassel 2004

4 Vgl. Hans Erik Deckert: Mensch und Musik, Steinbergkirche 2016

5 Verschiedentlich von Wolfgang Wünsch, Stephan Ronner, Martin Tobiassen und anderen beschrieben.

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