Natürlicher Spracherwerb ein Modell für den fremdsprachlichen Unterricht?

Erhard Dahl

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde diese Methode von anderen aus der fachdidaktischen Diskussion verdrängt. Der Rückgriff auf den natürlichen Erwerb der Erstsprache oder einer Zweitsprache im Zielsprachenland fand keine Beachtung mehr. Lediglich die Veröffentlichungen T. Terrells und S. Krashens zum »Natural Language Learning« reaktivierten in den 1980er Jahren die Debatte über Parallelen zwischen dem natürlichen Spracherwerb und dem schulischen Fremdsprachenlernen. Letztendlich konnte sich jedoch ihr Ansatz nicht im Unterricht durchsetzen.

Gegen die Annahme, man könne fremde Sprachen auf natürliche Weise lernen – und sie entsprechend lehren – gab es ein zentrales Argument: Es war der Verweis darauf, dass sich Kinder im Alter von sechs oder sieben Jahren, erst recht noch ältere Lerner, bereits eine Vielzahl von lexikalischen, grammatischen und phonologischen Eigenarten der Muttersprache angeeignet hätten. Der Versuch, eine Fremdsprache zu lernen, träfe somit im Gegensatz zur Lernsituation des Kleinkindes auf eine schon existierende und vergleichsweise komplexe Konstruktion einer anderen Sprache.

Gegen dieses Argument ist nichts vorzubringen. Auch ist anzunehmen, dass sich Steiner dieser Tatsache bewusst war. Es ist vielmehr zu vermuten, dass es ihm mit seinem Hinweis auf den Muttersprachenerwerb um die Bedingungen ging, unter denen die Muttersprache so leicht erworben wird. Die Forschung im Bereich des natürlichen Spracherwerbs ist in den vergangenen Jahrzehnten zu Einsichten gekommen, die von ganz besonderer Bedeutung für den Fremdsprachenunterricht auf allen Schulstufen sind. Einige von ihnen sollen im Folgenden erläutert werden.

Behaglichkeit im Unterricht

Der Muttersprachenerwerb ist in eine liebevolle Beziehung zu den Eltern oder anderen Bezugspersonen eingebettet. Teil dieser Beziehung ist zudem das Vertrauen der Eltern in die Fähigkeit des Kindes, ihre Sprache zu erwerben. Analog dazu lernen Schüler leichter, was ihnen von Menschen, die sie respektieren und mit denen sie gerne zusammen sind, im Unterricht »vorgelebt« wird – wie zum Beispiel ihre große Zuneigung zur Sprache, die sie lehren. Eine Grundstimmung der »Behaglichkeit«, die ja den Lebenssinn der Schüler positiv stimmt, gehört zu den entscheidendsten Voraussetzungen für eine gedeihliche Arbeit im Fremdsprachenunterricht.

Das Lernen geht vom Körper aus

Kindern lernen die Sprache beim Tun und in konkreten Lebenssituationen. Diese variieren, so dass die gleichen Ausdrücke in unterschiedlichsten Zusammenhängen erlebt werden. Des Weiteren begegnet die Sprache dem Lernenden immer ganzheitlich. Er erlebt also nicht nur verbale Erscheinungen (Wortschatz und Strukturen), sondern auch nonverbale, das heißt Gestik, Mimik, Physio­gnomie, also zum Teil feinste Bewegungen des Sprechenden, die für das Verstehen offenbar wichtiger sind als alles andere. Je leiblicher Sprache im Unterricht erscheint, desto leichter kann die Sprache verstanden und reproduziert werden. Hieraus ist für die Praxis zu schließen, dass Gestik und Mimik wesentliche Hilfsmittel im Unterricht sind. Zur Vermittlung der fremden Sprache sind Situationen jedoch nur dann lernförderlich, wenn sie nicht erkennbar didaktisch vorstrukturiert sind, also nicht ausschließlich aus der Absicht, bestimmtes Vokabular oder bestimmte grammatische Formen zu üben, entwickelt wurden. Es ist die Variation, in der neu eingeführte lexikalische und/oder grammatische Phänomene im Laufe der Wochen im Klassenzimmer auftreten – und nicht die (unveränderte) Wiederholung, die das Fremdsprachenlehren wirksam macht. Sich solche Variationen auszudenken, ist in der Tat eine anspruchsvolle Aufgabe bei der tagtäglichen Vorbereitung.

Auf die Motivation kommt es an

Ein weiteres Charakteristikum des natürlichen Spracherwerbs ist, dass das, was der Lernende erlebt und versprachlicht, für ihn bedeutsam ist und Folgen hat. Der Lernende will mit der Sprache etwas erreichen oder mitteilen. Er handelt als er selbst. Im Hinblick auf den Unterricht erinnert man sich zunächst an Steiners Aufforderung an den Fremdsprachenlehrer, immer so zu tun, als verstünde und spräche er kein Deutsch. Auf misslungene Äußerungen, deren Absicht nicht deutlich wird, sollte der Lehrer also zum Beispiel mit einer Nachfrage oder absichtlich falsch reagieren, das heißt, die Bemerkung hätte Folgen.

Wenn in einem inszenierten Dialog ein Schüler einen Mitschüler nach dem Weg fragt, jedoch eine falsche Antwort erhält, sollte das beim Ablaufen des Weges auf einem Stadtplan deutlich erlebbar sein. Unter »Inszenierung« verstehe ich hier z. B., dass der Lehrer einen Stadtplan an die Tafel malt, dann einem Schüler zeigt, wo er sich befindet, als ein Passant (zweiter Schüler) ihm begegnet und ihn nach dem Weg (z.B. zum Bahnhof) fragt. Die Fragen bzw. Antworten werden nicht vom Lehrer vorgegeben, sondern eine Situation initiiert, die einen freien Dialog ermöglicht. Auch wäre es sinnvoll, Fragen vorzubereiten, die den Schülern häufig die Möglichkeit geben, eigene Erlebnisse, Meinungen, Empfindungen in der Fremdsprache auszudrücken, das heißt, aus ihrem Ich heraus zu sprechen: »What would you do if …?«, »Tell us when you …?«, »Why do you think did she …?« Die fremde Sprache wird hier Medium der Gedanken, die mir wichtig sind, und das unterstützt – wie beim natürlichen Spracherwerb – die Verankerung neuer Ausdrucksweisen. In persönlicher Beziehung zu dem zu stehen, was ich sage, und zu erfahren, dass man meinen Worten Beachtung schenkt, hinterlässt eine tiefe Wirkung auf den Erwerbsprozess.

Kinder lernen wie von selbst

Kinder denken nicht an die Sprache, wenn sie sprechen. In der Forschung würde man in diesem Fall von implizitem Lernen – im Unterschied zum expliziten, reflektierenden Lernen – sprechen. Die intuitive Didaktik veranlasst die Eltern, das Lehren der Sprache zu vermeiden. Das Kind wird nicht nach fehlerhaften Äußerungen unterbrochen, um es zu verbessern und ihm Sprache zu erklären. Auch im Unterricht tritt implizites Lernen auf. Dazu bedarf es aber eines sehr reichen sprachlichen Angebots, geprägt durch systematische Wiederholungen, die nach und nach zu Verknüpfungen mit bereits eingeführten Spracherscheinungen führen sollen. Es gibt sprachliche Elemente, die bewusst gemacht werden müssen, zum Beispiel weil es Strukturen sind, die es in der Muttersprache der Schüler nicht gibt; aber auch, weil wir in der Waldorfschule mit Hilfe des Grammatikunterrichts den Schüler vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein führen wollen.

Die Sprache ist wie ein Organismus

In der Forschung herrscht weitgehendes Einverständnis darüber, dass Sprachen nicht in einem Stein-auf-Stein-Verfahren linear gelernt werden. Die Elemente einer Sprache wirken aufeinander ein wie Teile eines großen Organismus. Eine grammatische Struktur zum Beispiel kann nur gelernt werden, wenn »Nachbar-Erscheinungen« auf diesen Lernprozess einwirken können. Nur dadurch erfährt der Lernende die spezifische Leistung, und damit den Gebrauchswert der betreffenden Struktur. Das ist zum Beispiel der Fall bei einer Zeitform wie dem »Present Perfect« (»I have done my homework«), dessen spezifische Leistung erst durch die Erfahrung mit anderen Zeitformen wirklich verstanden werden kann. Die Sprache wird also nicht dadurch gelernt, dass Schritt für Schritt Phänomene der Sprache vorgestellt, geübt und getestet werden, um dann zur nächsten Lerneinheit überzugehen. Der Fortschritt ist vielmehr nichtlinear. Man müsste sich deshalb als Lehrer eher vom Bild eines gut verwobenen sprachlichen »Netzwerks« leiten lassen, das auf Seiten der Schüler im Verlauf der Schuljahre entstehen sollte.

Jeder lernt anders

Die Lernprozesse beim natürlichen Spracherwerb lassen sich mit einem Konstruktionsprozess vergleichen. Der Hintergrund dieses Begriffs ist hier der sogenannte Konstruktivismus – und zwar in seiner Verwendung im Bereich der Spracherwerbsforschung. Er verweist darauf, dass sich die fremde Sprache intern im Individuum aufgrund der angeborenen Spracherwerbsfähigkeit allmählich aufbaut. Die »Stationen« dieses Prozesses sind dem Lerner nur in geringem Maß bewusst. Dass der Aufbau immer individuell verläuft, hat zur Folge, dass Kompetenzen letztlich immer in individuellen Ausprägungen entstehen. Dem Konstruktions- bzw. Aufbauprozess liegt ständig eine Interaktion zwischen vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten und neu hinzukommenden Spracherscheinungen zugrunde. Das führt zu meistenteils unbewussten Reorganisationen wie auch »Löschungen« und Assimilationsprozessen. Das alles geschieht im Prinzip auch beim Aufbau der Muttersprache. Insofern besteht hier kein Widerspruch zwischen diesem Konstruktionsprozess und dem »natürlichen« Lernen.

Der Lernende baut die zu erlernende Sprache auf und muss sie fortwährend rekonstruieren, weil neue Spracherscheinungen hinzukommen und integriert werden müssen. Es ist offenbar ein Prozess, so zeigt die Forschung, der in seiner Vorgehensweise und in seinem zeitlichen Ablauf von außen nicht beliebig steuerbar ist. Es liegt am konstruktiven Charakter der Verarbeitungsprozesse und am individuellen Lernstand, auf den der Lernende zurückgreift, dass das neu Konstruierte nie identisch ist mit dem, was der kompetente Gesprächspartner an den Lernenden weitergibt oder weiterzugeben beabsichtigt. Das heißt, ein Fremdsprachenlehrer sollte wissen, dass der Schüler sehr wahrscheinlich nicht genau das lernt, was ihm präsentiert wird, sondern den Lehrstoff seinem Lernstand anzupassen versucht oder ihn zu diesem Zeitpunkt noch nicht annimmt. Beide Vorgänge sind dem Schüler nicht bewusst. Es wäre deshalb sinnvoll, den Unterricht so zu gestalten, dass der Schüler an den eigenen Stand seiner Sprachkonstruktion anknüpfen kann. Das erfordert ein reiches Angebot an Sprache, Situationen, Textsorten und methodischen Ansätzen. Nur dann ist es dem Schüler möglich, etwas zu finden, das für seine Art der Konstruktion gerade passend und hilfreich ist und der eigenen optimalen Lernweise entgegenkommt. Steiner betont genau dies, wenn er die Bedeutung einer aktiven Individualisierung im Unterricht anspricht (Steiner 1993). Lehrinhalte jedoch, die in Unkenntnis der betreffenden Schülergruppe vorselektiert sind (durch Lehrpläne, Lernstandserhebungen, Lehrwerk), können schnell einen natürlichen Spracherwerbsprozess erschweren. Sie schränken den Schüler ein, gemäß seines augenblicklichen Lernstands und Lernstils die fremde Sprache aufzubauen. Steiners Hinweise darauf, dass man es beim Fremdsprachenunterricht bei einem »losen Lehrplan« (Steiner 1975, 2.6.1924) belassen solle, dass »der Sprachunterricht […] in Zukunft etwas freier gehandhabt werden [muss]«, und dass er »im Ganzen […] nicht klassenmäßig eingerichtet zu werden [braucht]« (24.7.1920), schaffen die nötigen didaktisch-methodischen Freiräume.

Worteinheiten als Katalysatoren

Bei der Erforschung des natürlichen Spracherwerbs wurde deutlich, dass der Wortschatz der Lernenden schon sehr früh überwiegend aus formelhaften Mehrworteinheiten und nicht aus Einzelwörtern besteht. Zehntausende solcher Einheiten sind beim Muttersprachler die Basis des flüssigen und schnellen Sprechens. Substantive werden zusammen mit jenen Adjektiven und Verben erworben, die sich mit ihnen so gut wie immer zusammenfügen, wie »tall boy«, jedoch nicht »high boy«, »to take an exam«, aber nicht »to make an exam«. Ebenso werden Sätze, die sich in der jeweiligen Kultur institutionalisiert haben, als Einheiten gelernt, zum Beispiel »I haven’t seen you for ages«, aber auch Satzeröffnungen, wie »I’m wondering …«, oder halb feste Phrasen, wie »There’s no chance of ...«, die vom Sprecher je nach Situation vervollständigt werden. Die Übernahme solcher lexikalischen Phrasen gehört offenbar zum natürlichen Spracherwerb. Der Mensch nimmt Sprache ganzheitlich, nicht atomistisch auf. Auch der schulische Erwerb ist nicht per se auf das viel schwierigere Zusammensetzen einzelner Wörter angewiesen. Will man die lexikalische Natur der Sprache betonen, ist es deshalb sinnvoll, Schüler schon früh mit vielen dieser Worteinheiten vertraut zu machen.

Lob der Wiederholung

Beim Muttersprachenerwerb hört das Kind wiederholt und in kurzen Zeitabständen gleiche sprachliche Formen. Die Wiederholung sichert den Erwerb der Sprache. Alles müsste eigentlich darangesetzt werden, sie im Unterricht zu imitieren. Für die Wortschatzarbeit ließe sich daraus ableiten, dass es zu häufigen Begegnungen mit neu eingeführten lexikalischen Phrasen in verschiedenen situativen Zusammenhängen innerhalb der folgenden drei bis vier Wochen kommen sollte. Aber auch danach muss versucht werden, diese lexikalischen Elemente über Monate immer wieder auftreten zu lassen, bis sie im Unterrichtsgespräch und in Hausarbeiten von den Schülern sicher verwendet werden.

Dasselbe gilt für grammatische Strukturen. Damit Schüler sie a) wahrnehmen, b) mit den schon verarbeiteten Strukturen abgleichen und c) danach mit ihnen experimentieren können, sollten sie in unterschiedlichsten Situationen und über längere Zeit, das heißt Schuljahre übergreifend, systematisch und zyklisch geübt werden. Wenn Lehrer in geplanten zeitlichen Abständen immer wieder zurückkommen auf bereits eingeführte Strukturen, entsteht hinsichtlich anderer Strukturen eine Zeitphase, in der sich diese wiederum »setzen« können. Der Wunsch nach schnellen Beweisen für den erfolgreichen Unterricht sollte nicht dazu führen, dass schon bald nach der ersten Behandlung eines grammatischen Phänomens seine produktive Anwendung in Tests oder mündlichen Überprüfungen verlangt wird. Neue grammatische wie lexikalische Elemente sollten zunächst im rezeptiven Bereich bleiben. Das erlaubt den Schülern eine interne Verarbeitung, eine »Inkubationszeit« für das gerade Dargebotene. Es wäre ideal, wenn von Schülern erst dann die freie Anwendung eines neu vermittelten Sprachphänomens verlangt würde, nachdem ihnen zahlreiche Erfahrungen mit diesem Phänomen ermöglicht wurden. Ist das nicht der Fall, kann sich der Schüler beim Zwang zum Sprechen nur an die Muttersprache anlehnen oder das Unbekannte ergreifen – in beiden Fällen wird er vermutlich scheitern. Das sollte man ihm ersparen, um ihm nicht die Freude am Lernen zu nehmen.

Das Kind hört aber nicht nur die Muttersprache, es tritt dabei auch in eine Beziehung zur jeweiligen Äußerung. Es hofft, erwartet etwas, ist gespannt, möchte verstehen, ist überrascht, lacht. Es hört und empfindet; es lernt empathisch. Fühlendes Wahrnehmen ist eine große Hilfe beim Spracherwerb. Auch im Unterricht erleichtert man dem Schüler den Spracherwerb, wenn es dem Lehrer gelingt, sein Bemühen mit Freude, Humor, Spannung, Schmerz, Überraschung zu verbinden. Es wird dadurch nicht nur die Aufmerksamkeit gesteigert und das Verstehen intensiviert, sondern es wird auch die Seele aufgerufen. Sie ist dann dabei und wird zur Bewahrerin dessen, was fühlend wahrgenommen wurde, weil sie dem Leib in diesem Moment etwas einprägt. Sie formt den Gedächtnisschatz.

Wer mit den Veröffentlichungen zum Waldorf-Fremdsprachenunterricht vertraut ist, wird Übereinstimmungen zwischen diesem und den hier erläuterten Befunden feststellen. Doch diese Befunde enthalten weitere wertvolle Anregungen. Sehr gerafft könnte man formulieren: Grammatische Übungen sollten zugunsten lexikalischer Übungen mit Worteinheiten verringert werden. Der natürlichen, gesprochenen Sprache ist mehr Unterrichtszeit als der von ihr sehr verschiedenen Schriftsprache zu widmen. Dem Lehren und Korrigieren ist deutlich geringere Bedeutung beizumessen als inhaltlich orientierten Gesprächen, echten Lehrerfragen und ich-bestimmten Schülerantworten. Die Einheit von Emotion, Leiblichkeit, Kognition und Sprache sollte möglichst in jeder Unterrichtsstunde das leitende methodische Prinzip sein.

Zum Autor: Prof. Dr. Erhard Dahl hatte bis 1990 an der Universität Paderborn einen Lehrstuhl für Englische Literatur und ihre Didaktik inne; von 1990 bis 2012 war er Fachlehrer für Englisch an der Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart

Literatur: R. Steiner: Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft, Dornach 1993; ders.: Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule in Stuttgart, Dornach 1975