Hundert Jahre nach Begründung der Waldorfpädagogik entsteht in ihr eine Bewegung, die Kindern eine neue Perspektive geben und Lösungen für die globalen und gesellschaftlichen Herausforderungen finden will.
Wie soll man ein Kind erziehen in einer Gesellschaft, in der die Deutungen der Wirklichkeit immer mehr auseinanderdriften? Angesichts der forcierten Digitalisierung der Bildung und des Verlustes gemeinsamer Bewusstseinshorizonte drängt sich die Frage auf: Auf welchem inneren und äußeren Boden können Kinder heute gedeihen? Wen und was brauchen sie, um in sich selbst heilende Kräfte zu entfalten – für die elementare Welt, die Pflanzen, die Tiere, ihre Mitmenschen, ja, für den Sternenhimmel über ihren Köpfen?
Während der Tagung Lernziel: Handeln können am Institut für Waldorfpädagogik bleibt kein Stein auf dem anderen, pädagogische Fundamente werden hinterfragt und der Boden umgepflügt. Die Teilnehmer: alles Unikate. Kräftige Landwirte und Landfrauen, die der Erde eine uralte Frage neu stellen. Altgediente und angehende Pädagogen, die nach neuen Wegen suchen, einige Mediziner, die ihre Sorge um die Kinder zur Tat treibt.
Manfred Schulze beschreibt das Leben und Handeln auf Hof Hauser. Der Vortrag ist ein einziger provokativer Appell, die alten pädagogischen Formen zu verlassen, Schule radikal neu zu denken, Lernziele, Lehrplan und Lehrpraxis über Bord zu werfen, und stattdessen Freiräume zu schaffen, in denen das Leben der Erde, der Pflanzen, der Tiere und des handelnden Menschen ins Zentrum des Lernens und der Pädagogik rückt. Schulze nennt das »Schule zerstören« oder von den »verrückten Kindern lernen«. Es ist ein Vortrag, der in seiner Radikalität kaum zu überbieten ist, jedoch auch einen Schimmer Zukunft und eine erfrischende Portion Ganzheitlichkeit in die Diskussion bringt. Das anschließende Podium arbeitet sich an dieser Qualität ab. Die anklingende Kritik: Bullerbü – kulturelle Regression, oder auch, dass nicht jeder Lehrer auf einem Hof leben könne. Jedoch: Alle sind sich einig, dass die imaginative Zukunftskraft einer solchen Handlungspädagogik nottut.
Der Landwirt Martin Mackensen, der Kinderarzt Stefan Schmidt-Troschke und der Waldorfpädagoge Peter Guttenhöfer differenzieren am zweiten Tag die begriffliche Vorlage.
Mackensen rückt Vorstellungen über die Landwirtschaft und die Natur zurecht. Die pflanzliche und tierische Natur, wie wir sie kennen, sei ohne uralte Kulturtaten nicht zu verstehen, sie prägten bis heute die Natur. Die Landwirtschaft ist der prädestinierte Kulturort, an dem Menschen und insbesondere Kinder für die ökologische (Aus-)Wirkung ihrer eigenen Handlung aufwachen könnten.
Schmidt-Troschke entwickelt in Anlehnung an das Resonanz-Konzept von Hartmut Rosa einen Gesundheitsbegriff, der über die dichotome Arzt-Patient-Beziehung oder die monokausale Krankheit-Diagnose-Therapie-Konzeption hinausweist. Gesundheit als Zustand, der sich einstellt und nicht eingefordert oder schematisch hergestellt werden kann, erfordert seiner Ansicht nach die Ausbildung lebendiger Weltbeziehungen und dialogischer Sozialräume.
Mit seinem humorvollen Beitrag nimmt Guttenhöfer eine Umstülpung des pädagogischen Blicks vor. Er macht deutlich, wie sich die pädagogische Handlung verändert, wenn sie ihren Fokus auf die händische, seelische und geistige Tathandlung und nicht wie üblich auf formale Wissensvermittlung setzt.
Die freien und geführten Gespräche finden eine vorläufige Abrundung am Abend mit einem fachlich-versierten Einblick in die Tätigkeit der Forschungsstelle für Waldorf-Arbeitspädagogik und Berufsbildung. Tilman Kieser schildert die im industriellen Kontext entwickelte Konzeption der Hiberniaschule in Herne, die ihren Schülern nicht nur einen dualen Abschluss ermöglicht, sondern mit dem Schwerpunkt praktischer Fähigkeitsbildung, Lebenssicherheit und -zuversicht vermittelt. Klaus-Peter Freitag, Geschäftsführer beim Bund der Freien Waldorfschulen, zeigt, wie mit der beginnenden Anerkennung eines Abschlussportfolios nach und nach andere Arten des Lernens und der Leistungsdokumentation aufgewertet werden. Der Erziehungswissenschaftler Wilfried Gabriel rundet den Abend ab, indem er das Oberstufenkonzept der Waldorfschule Schloss Hamborn beschreibt. Es wird deutlich, dass für junge Menschen heute die Frage »Wie und was kann ich tun?« biographisch bestimmend und existenziell ist. Schulen, die ihr Angebot in der Oberstufe erweitern wollen, sollten von diesem Engagement und dieser fachlichen Detailkenntnis profitieren.
Die Kinderärztin und Autorin Karin Michael und der Gartenbaulehrer Gerhard Stocker skizzieren am letzten Tag die geistigen Entwicklungsbedürfnisse und -voraussetzungen des Kindes. Michael beschreibt, wie die Entfaltung des Eigenwillens zur gesunden kindlichen Entwicklung beiträgt. Der Schutz dieses Willens beginne schon mit der Frage nach dem selbstbestimmten Zeitpunkt der Geburt und setze sich während der Kindheit im sparsamen Regulieren der Sinneseindrücke – insbesondere der digitalen – fort. Gerhard Stocker ergänzt diese Perspektive, indem er deutlich macht, dass der Geist im Kopf ohne den Geist in der Hand nichts bewirken könne. Hier wird eine Forschungsfrage der Handlungspädagogik greifbar: »Was ist eine Handlung?«
Die gesamte Tagung durchzieht eine lebensfreudige Erwartungshaltung, die von einem Gedanken der Pädagogin Anni Heuser getragen wird: »In Zeiten, in denen die Niedergangskräfte dominieren, kommt es auf den Einsatz des ganzen Menschen an. Auf den Entschluss: nicht mit dem Strome und nicht gegen den Strom zu schwimmen, sondern Neuland zu schaffen, in sich selbst und in seinem Wirkungskreis.« Schulisches Neuland nach dem Vorbild der »pädagogischen Provinz« – das machen die Tage in Witten deutlich – braucht die Zusammenarbeit von Menschen aus Pädagogik, Medizin und Landwirtschaft.