Man legt sich ja nicht gern mit dem Dalai Lama an … Aber hatte er recht, als er in einem Gespräch mit Franz Alt im Jahr 2003 den Menschen als »den größten Schädling auf der Erde« bezeichnete und behauptete, der Welt ginge es ohne uns viel besser? Lässt sich aus so einer Ansicht eine sinnvolle Pädagogik gewinnen?
Menschen sind für viel Zerstörung auf dem Planeten, den wir unser Zuhause nennen, verantwortlich. Muss man uns deswegen wegwünschen? Das ist für Lehrer und Lehrerinnen, für Eltern und Großeltern eine wichtige Frage: Wie inspirieren wir unsere Kinder zu einem intuitiv sanften, verantwortungsvollen Umgang mit der sie umgebenden Welt? Obwohl diese Frage durchaus eine moralische Qualität hat, liegen wir doch arg daneben, wenn wir uns mit erhobenem Zeigefinger vor die nächste Generation stellen: Schnell und zu Recht würde das als Heuchelei erkannt, und damit wirkungslos.
Der ganzheitliche Ansatz der Waldorfpädagogik greift das Verhältnis von Erde und Mensch anders auf. Wir gehen davon aus, dass der Mensch ganz mit den Elementen verbunden ist. Wie können wir aber nun diese Verbindung für die Kinder sichtbar und erlebbar machen?
Bilder und Geschichten wirken
In der ersten Klasse – vielleicht auch schon im Kindergarten – helfen da Bilder und Geschichten, die die natürliche Welt nicht nur als lebendig, sondern geradezu als beseelt erscheinen lassen. Das wunderbare »Spiel von den Erdgeistern« (Elisabeth Klein, 1964) lässt die Elementarwesen Gnome, Undinen, Sylphen und Salamander der guten Mutter Erde dienen und dabei Reime sprechen, die bis ins Versmaß hinein das Wesen der Aktivität erkennen lassen:
Atemlos, von Flamme zu Flamme springend, rufen die Feuergeister:
Wir zerfasern
alles Dichte,
wir verzehren
alle Reste,
denn wir hassen
alles Feste,
und wir hassen
alles Feuchte,
denn wir leben
in der Leichte.
Würdevoll und erhaben dagegen der Rhythmus der Wassergeister:
Kreisen im tiefen See,
Steigen zur Himmelshöh',
Zieh‘n mit den Wolken fort,
Rieseln im Regen dort,
Stürzen im Wasserfall
Wieder zu Tal.
Mit welchem Element verbindet sich das sechsjährige Kind am liebsten? Möchte es grummelnder Zwerg sein oder schwerelose Sylphe? Für alle gibt es eine Rolle in diesem Spiel, und alle verbinden sich in ihrer Einseitigkeit zu einem harmonischen Ganzen. Hier wird auf fantasievolle Weise das Fundament gelegt: Wir leben gemeinsam in der Welt, und tragen sie in all ihrer Vielfalt in uns. Lehrer, die eine erste Klasse übernommen haben, werden in den folgenden Jahren viele Möglichkeiten finden, diese Stimmung der Achtsamkeit, die tief empfundene, aber nie sentimentale Verbundenheit mit den Elementen ins Bewusstsein der Kinder zu heben.
Das Erlebnis von Wasser und Wärme
Zu Lichtmess im frühen Februar folgen wir in der zweiten Klasse dem jahrhundertealten keltischen Brauch, ein kleines Loch in die Erde zu graben, es mit Wachs und einem Docht zu füllen und diesen zu entzünden. Die so entstandenen »Erdkerzen« schenken symbolische Wärme als Vorboten des Frühlings – sie sind ein Bild des fürsorglichen menschlichen Bewusstseins, das sich liebevoll der Erde zuwendet. Ganz anders der hochsommerliche »Bachspaziergang«: Die Temperaturen liegen in den Dreißigern, die Sommerferien sind schon nah. Jetzt spannt der Lehrer ein langes Seil in den Bach, und die ganze Klasse bringt Schwimmsachen und alte Turnschuhe zur Schule. Um elf Uhr wandern alle fröhlich zum Ufer. Wir steigen in das kalte Gewässer, das den Kindern bis zur Brust geht, halten uns gut am Seil fest und tasten uns erst mit, dann gegen die Strömung fort. Wir erleben die Bachböschung von unten, die Strömung drückt und zerrt, wir spüren die Kraft und die Kühle des Wassers und auch ganz intensiv uns selbst!
Kulturelle Praxis erfahren
In der dritten Klasse lernen wir, die Welt zu messen und einzuteilen, nicht zuletzt auch die Zeit. Das Stundenglas ist unsere Erduhr, ein steter Tropfen in eine Schüssel die Wasseruhr. Die Sonnenuhr bedient sich des Luft- und Lichtelements, und eine herunterbrennende Kerze zeigt, wie man die vergehende Zeit mit Feuer messen kann. Überall sehen wir in diesem, vom praktischen Leben charakterisierten Schuljahr die vier Elemente gemeinsam am Werk. Bauern, Handwerker, Bäcker: Sie alle vereinen die Geschenke der Natur zu einem Ganzen, das mehr als die Summe seiner Teile ist. Im Mörtel der Hausbau-Epoche geben Kies und Sand die Substanz, werden geschmeidig durch das Wasser, verändern sich chemisch durch die Hitze des Kalks und härten schließlich an der Luft.
Seelische Qualitäten spüren
Wenn ich im zehnten Lebensjahr deutlicher erfahre, wer ich bin und was mir liegt, erlangen die archetypischen Merkmale der vier Elemente auch seelische Qualität: Wie das Wasser lässt sich der phlegmatische Mensch nicht leicht aus der Ruhe bringen und findet immer einen Weg, wenn man ihm genug Zeit lässt. Wie sein Element, die Luft, kommt der Sanguiniker nie zur Ruhe, wird von seiner Umwelt hin und her bewegt und ist immer voll von neuen Farben und Düften.
Mit feuriger Intensität schießen Choleriker oft übers Ziel hinaus und zerstören, wo sie nur reinigen wollen – erwärmen mit ihrer Leidenschaft aber alle, die ihnen nahe sind. Erdenverhaftet schließlich die Melancholikerin: verlässlich, unbeweglich und gründlich ist sie der Ruhepol, wo um sie herum alles fließt, weht und flammt.
Vielfalt auf der Erde
Nicht nur bei Schilderungen der natürlichen Welt werden Lehrer jetzt immer danach streben, das Lob der Vielfalt zu singen. Auch in den Erzählungen aus den Mythologien der Weltgeschichte und noch viel direkter erlebbar in der Klassengemeinschaft, finden wir überall Einseitigkeiten, die sich ergänzen. Je älter die Schüler werden, desto bewusster wird die unterscheidende Gebärde: Das analytische Denken erwacht an seiner Fähigkeit, Charakteristiken zu erkennen und einzuordnen. So spazieren wir in der Botanik der fünften Klasse durchaus bewusst durch die Naturreiche: Den erdnahen Pflanzen wie Pilzen, Flechten und Moosen folgen die wässrigen Algen, die windbewegten Farne, Gräser und Bäume, bis wir schließlich inmitten von Licht und Wärme bei farbenfrohen und fruchtenden Blüten ankommen.
Diesen Mikrokosmos sehen wir im Großen in der Erdkunde. Fehlt auch nur eines der vier Elemente, ist menschliches Leben auf Dauer nur bedingt möglich – ohne Wasser sind wir in der Wüste, ohne Erde in der Tiefsee, ohne Luft auf dem Himalaya, und ohne Wärme in der Arktis. Immer sind die Bewohner »einseitiger« Gebiete im Ringen mit der Natur, in der Selbstbehauptung.
In der Geografie mit Oberstufenschülern lohnt es sich, auf die Geschichte verschiedener Regionen zu schauen und zu überlegen, ob es ein Zufall ist, dass die großen zivilisatorischen Bewegungen der Menschheit in »gemäßigten« Ländern stattfanden. Nordchina, Indien, Persien, der Mittelmeerraum, Mitteleuropa und Nordamerika – sie alle sind dadurch gekennzeichnet, dass sich zumindest im Jahreslauf die vier Elemente ungefähr die Waage halten. Nur selten kamen überregionale Kulturimpulse aus tropischen oder polaren Regionen.
Der ganze Mensch muss achtsam sein
Im Lauf der siebten Klasse schärft sich das naturwissenschaftliche Empfinden der Schüler: Stand in der Sechsten noch das staunende »Aha-Erlebnis« im Vordergrund, verbindet sich die menschliche Seele jetzt ganz unmittelbar mit dem Phänomen: Wo finde ich das Irdische, Wässrige, Luftige oder Feurige in meiner Ernährung, wo in meinem Körper? Wir lernen, dass das Feuer nicht nur als Zerstörer, sondern als Verwandler Substanzen von einem Elementarzustand in den anderen führt. Der Kohlenstoffkreislauf ist ein gutes Beispiel: Kaum ein Kind kann sich zunächst vorstellen, dass alle pflanzliche Substanz einmal als Gas in der Luft schwebte, und dann durch die Verbrennungsprozesse in Verwesung, Verdauung und Atmung wieder dorthin zurückgeführt wird.
In der achten Klasse, wenn wir die Klimazonen der Erde, die Luft- und Wasserströmungen der großen Wetterbewegungen durchnehmen, stellen wir uns die anfangs gestellte Frage dann bewusst, und gemeinsam mit den Jugendlichen: Was ist denn die Rolle des Menschen, was seine Verantwortung? Jeder von uns will wie Goethes Prometheus einmal ausrufen: »Ich kenne nichts Ärmeres unter der Sonne als Euch Götter!«, will sich von den Gegebenheiten der Umwelt und der Tradition emanzipieren und sein Eigenes schaffen. Wie lässt sich mein Freiheitsstreben verwirklichen, ohne dass ich dabei wertvolle Ressourcen zerstöre, die den nach mir kommenden Menschen dann fehlen werden?
Der Dalai Lama hat es sicher nicht so gemeint … aber nimmt man seinen Ausspruch ernst, kann man eigentlich nur zum Zyniker werden, der alles weiß, aber nichts tut. Und damit ist nun wirklich niemandem geholfen, schon gar nicht der Erde. Der ganze Mensch muss achtsam sein, nicht nur sein Bewusstsein. Habe ich als Kind meine Eingebundenheit in das elementare Gefüge der Natur wirklich mit meinem ganzen Wesen erleben dürfen, werde ich als Erwachsener verantwortlich und liebevoll mit ihren Geschenken umgehen wollen.
Zum Autor: Sven Saar ist an der Steiner Academy Hereford in Großbritannien als Klassenlehrer und in der Ausbildung tätig.