Freiheit ist schon vorher da
Solange dieses Verhältnis nach dem Bild des Formens gedeutet wird, ist es nicht überzeugend, wenn ein Lehrer sich damit rechtfertigt, dass die Freiheit des Schülers ja das Ziel des Bildungsprozesses sei. Wenn am Ende wirklich Freiheit herausspringe, frage ja niemand mehr nach dem Weg dorthin. Freiheit springt aber nicht plötzlich heraus, wenn sie nicht vorher schon herausgefordert wird. Sie gehört grundsätzlich, also auch von Anfang an, zum Wesen des Menschen, als das Medium, in dem sich menschliches Leben entfaltet. Freiheit kann deshalb nie das Ergebnis von etwas Anderem, Unfreiem sein. Zwar gelangen wir nur durch einen Sprung in den Raum der Freiheit. Dieser Sprung ist jedoch selbst schon Akt und Beweis unserer Freiheit. Folglich gelangen wir gerade und erst dank der Freiheit zur Freiheit. Freiheit muss schon vor dem Sprung irgendwie »da« gewesen sein. Sie ist bei jedem Menschen und jederzeit vorauszusetzen – als Möglichkeit, die mehr oder weniger aktuell ist, die aber auch da, wo sie (noch) schläft, von einem Moment auf den anderen erwachen kann.
Selbst-Bildung und die Bedeutung der Anderen
Streng genommen lässt sich Bildung nur als Selbst-Bildung mit dem Gedanken der Freiheit verbinden. Wird ein Lehrer-Schüler-Verhältnis demzufolge hinfällig oder illegitim und Eltern und Kinder hätten sich nur noch auf gleicher Augenhöhe zu begegnen? Stefan Brotbeck schrieb in seinem Beitrag zu dieser Reihe: »Ich allein kann mich bilden, aber mich bilden kann ich nicht allein.« Was heißt das für die Freiheit? Ist Bildung, auch Selbst-Bildung, nicht ohne Beziehung zu Anderen möglich, was eine Einschränkung meiner Freiheit bedeutet, die ich dann als notwendiges Übel in Kauf zu nehmen hätte? Doch so zu denken, hieße Freiheit zu verfehlen. Eine mit sich selbst kurzgeschlossene Freiheit ist ein absolut leerer Begriff. Ob ich meine Freiheit für oder meine Freiheit von im Auge habe – immer ist sie in diesem »für« und »von«, auf ein Anderes als ich selbst, auf Andere bezogen. Auch wenn wir sie als Selbstbestimmung deuten, wiederholt sich im Blick auf das »Selbst« das gleiche Problem. Denn unser Selbst ist keine fraglose Gegebenheit, sondern erhält seine konkrete Bedeutung erst in der Auseinandersetzung mit den anderen. Also bedeutet diese Auseinandersetzung keine Einschränkung, sondern vielmehr die Voraussetzung für die Herausbildung von Freiheit.
Doch damit ist die ungleiche, asymmetrische Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, Eltern und Kind noch nicht gerechtfertigt. Es steht jetzt nicht mehr nur die Vereinbarkeit von Bildung und Freiheit in Frage, sondern auch, wie sich Freiheit bildet, von welchen Bedingungen der Prozess der Freiheitsbildung abhängig ist. An dem Gedanken, dass Freiheit ein wesentliches Ziel von Bildung sein sollte, darf ja durchaus festgehalten werden.
Vorbild sein
Die Antwort gab schon Albert Einstein: »Es gibt keine andere vernünftige Erziehung, als Vorbild sein, wenn’s nicht anders geht, ein abschreckendes.« Auf die Bedeutung des Vorbildes zu verweisen, ist nicht besonders originell. Doch gibt es in unserem Zusammenhang keine bessere Antwort. Und sie korrigiert ein weit verbreitetes Vorurteil, nach dem Vorbilder, verstanden als Idole, gerade in die Abhängigkeit führten, während Freiheit einzig in der Ablehnung, im Widerstand, in der Distanzierung gründe.
Dass die Idolatrie eine reale Gefahr darstellt, sei nicht bestritten. Aber während kaum jemand Orientierungslosigkeit mit Freiheit gleichsetzt, wird auf der anderen Seite weniger deutlich erkannt, dass eine freie Orientierung erst auf dem Boden von zunächst einmal als verbindlich anerkannten Orientierungen wachsen kann. Zuerst muss Orientierung da sein, daraus entwickelt sich ein Prozess der Um- und Neuorientierung und erst an dessen Ende steht dasjenige, was wir als »freie Orientierung« oder »Orientierung in Freiheit« bezeichnen können. Deshalb hat die Vermittlung von Bildung im geläufigen Sinne eine entscheidende Funktion im Prozess der Freiheitsbildung – sofern sie Orientierung bietet: Freiheit durch und dank Bildung. Der Lehrer aber, welcher Orientierung zurückhält, weil er fürchtet, dass sie Manipulation des Schülers bedeutet, wird bei diesem keine größere Freiheit in der Orientierung erreichen, sondern vielmehr verhindern, dass der entsprechende Prozess bei ihm überhaupt in Gang kommt.
Wie kann ich Erziehung leisten? – Nicht anders, als indem ich Vorbild bin. Vorbildsein bekommt hier einen aktiven Sinn und wird mit einem Anspruch verbunden. Es heißt nicht: Über Erziehung brauche ich mir keine Gedanken zu machen, da ich ohnehin als gutes oder schlechtes Vorbild auf meine Kinder oder Schüler wirke. Sondern: Da ich für diese faktisch ein Vorbild bin, muss ich mir Gedanken darüber machen, wie ich die mir damit gestellte Aufgabe nach bestem Wissen und Gewissen löse.
Im Unterschied zur Gewaltsamkeit einer wörtlich verstandenen Bildung als Formung erkennt der Gedanke des Vorbildseins auch die Freiheit des heranwachsenden Kindes an, insofern nämlich, als es diesem überlassen bleibt, was es als vorbildlich annimmt und was nicht. Die Autorität des Vorbildes kann in keiner Weise erzwungen werden. Wenn hier ein Zwang ins Spiel kommt, ist das gerade der sicherste Weg, seine Autorität zu verspielen.
Zum Autor: Dr. Christian Graf machte eine Ausbildung zum Klavierlehrer und studierte Philosophie, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Musikwissenschaft an der Universität Basel. Er ist Präsident der Heinrich Barth-Gesellschaft und Mitwirkender am Philosophicum in Basel. 2010 gründete er die Gesprächsreihe »Denkpausen«. Hauptberuflich ist er als Hausmann und Erzieher seines Sohnes tätig.