Sprechen mit sicherem Gefühl und klarem Kopf

Alain Denjean

Wenn wir unbefangen Sprache wahrnehmen, spricht uns das Gesprochene oder Gelesene auf zwei verschiedene Arten an. Zwei Beispiele mögen das illustrieren.

Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen; ich saß auf der Türschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen, mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine. Da trat der Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, der sagte zu mir: »Du Taugenichts! da sonnst du dich wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde, und lässt mich alle Arbeit tun.«

J. von Eichendorff; Aus dem Leben eines Taugenichts 

Der Begriff der Philosophie ist die sich denkende Idee, die wissende Wahrheit … Die Wissenschaft ist auf diese Weise in ihren Anfang zurückgegangen, und das Logische ihr Resultat, als das Geistige, welches sich als die an und für sich seiende Wahrheit erwiesen … hat.

G. W. F. Hegel; Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften

Im ersten Beispiel genießen wir das Bild, stellen uns die Szene vor, hören das Rumoren in der Mühle, die Spatzen, und mit etwas Fantasie spürt der eine die Frühlingswärme in der Luft, der andere riecht die duftenden Veilchen. Wir tauchen mit Gefühl und Willen in die Sprache und die Bilder ein. Im zweiten Beispiel ist unsere Aufmerksamkeit der Sprache gegenüber ganz anders; wir bleiben bei den Formulierungen und konzentrieren uns auf den Gedankengang. Wir schaffen einen Abstand von der Sprache und setzen unsere Denkfähigkeit ein. Wir erfassen einen Gedanken, der dann vor uns steht.

Im ersten Beispiel wird Sprache empfunden, im zweiten gedacht. Zur Sphäre der empfundenen Sprache gehören Formen, in denen das logische Denken zunehmend verschwindet: Abzählverse (»Ehne Mehne Muh und raus bist du«), Zauberformeln und Mantren (zum Beispiel das Meditationswort: »Aum«), Klänge, das Summen einer Melodie, und schließlich auch die Sprache, die sich noch nicht durch den Kehlkopf artikuliert: die Körpersprache. Die Sphäre des zweiten Beispiels umfasst alle Sprachzeugnisse, die das Kognitive in den Vordergrund stellen, wie philosophische Inhalte, aber auch Gebrauchsanweisungen, sachliche Informationen, Abkürzungen (UNO, WTO) bis hin zum Kryp­tischen, das man nur mit einem Code entziffern kann.

Der gesunde moderne Mensch lebt in beiden Sphären der Sprache. Sie sind verschieden, doch gehören sie zusammen wie die zwei Hälften einer Walnuss.

Zwei Gehirnhälften für unterschiedliche Aufgaben

Nachdem R.W. Sperry 1981 den Nobelpreis für seine Forschung über die Spezialisierung der beiden Gehirnhälften erhalten hatte, wurde der Doppelaspekt der Sprache, der nun auch wissenschaftlich nachgewiesen war, in der Pädagogik immer mehr berücksichtigt.

Es zeigte sich, dass wir in unserer modernen Welt die linke Gehirnhälfte viel stärker als die rechte in Anspruch nehmen und eigentlich einseitig leben. Gleichzeitig entdeckte die Forschung über die emotionale Intelligenz (Goleman), dass die Sprache zu neunzig Prozent aus Nicht-Kognitivem besteht. Das traf den klassischen Fremdsprachenunterricht in den Regelschulen, bei dem einseitig die linke (kognitive) Gehirnhälfte in Anspruch genommen wird, um eine Fremdsprache zu erlernen, obwohl sich dieses Lernen wenig im Kognitiven abspielt. Anfang der 1990er Jahre warf ein Jurist, Gerhard Huhn, dem deutschen Bildungswesen sogar Verfassungswidrigkeit vor, weil es einseitig die Entwicklung der linken Gehirnhälfte fördere, was diskriminierend sei.

Es mag sich seit den 1990er Jahren in den Regelschulen manches geändert haben. Doch für die Schulbuchverlage bleibt es schwer, schriftliche Übungen zu entwickeln, die nicht kognitiv formuliert sind, und bei der Leistungskontrolle ist es wesentlich leichter, zu einer objektiven Bewertung von Leistungen der linken als der rechten Gehirnhälfte zu kommen.

Kritik am Fremdsprachenunterricht der Waldorfschule

Anders war und ist die Situation im Fremdsprachenunterricht der Waldorfschulen. Von vornherein wurde großer Wert auf die empfundene Sprache gelegt, indem die Sprache intuitiv, dem Sprachgeist nach, durch Nachahmung, ohne Übersetzung und Lehrbuch und mit viel Künstlerischem unterrichtet wurde. Man kann sich sogar fragen, ob der Fremd­sprachenunterricht der Waldorfschule die linke (kognitive) Seite des Gehirns genügend berücksichtigt.

Auf der anderen Seite trifft man in den Waldorfschulen immer wieder auf Fremdsprachenlehrer, die von dem Wert eines einseitig kognitiven Unterrichts überzeugt sind. Die Fremdsprache wird zum reinen Lernfach, was dem Ansatz der Waldorfpädagogik überhaupt nicht entspricht.

Mir scheint hier das Hauptproblem zu liegen. Zu oft wird in einer ersten Phase der Fremdsprachenunterricht als etwas Spielerisches ohne Hervorbringung von Leistungen praktiziert, dann aber plötzlich als reines Lernfach mit Tests, Vokabellisten, unregelmäßigen Verben und kognitiven Anforderungen. Die bis dahin als homogen empfundene Gruppe fällt auseinander. Die Frage nach einer Binnendifferenzierung kommt auf, aber oft führt methodische Einfallslosigkeit zur Teilung nach Leistungsgruppen.

Der Fremdsprachenunterricht der Waldorfschule will von Anfang an sowohl die empfundene als auch die gedachte Sprache berücksichtigen. Das Unterrichten wird erst sinnvoll und produktiv, wenn beide Aspekte der Sprache durch verschiedene Methoden den Schülern angeboten werden. Aber wie sieht die gesunde Mischung aus?

Stark vereinfacht kann man sagen, dass Kinder sich während des ersten Jahres ihres Lebens aufrichten, während des zweiten Jahres die Muttersprache erlernen und gegen das dritte Jahr hin anfangen, Gedanken zu bilden und zu verstehen. Alle Ärzte betonen, dass es für die Entwicklung des Kindes wichtig ist, sprechen zu lernen, bevor es Gedanken bildet. Hier liegt ein wichtiger Schlüssel zur Methodik eines gesunden Fremdsprachenunterrichts während der Schulzeit.

Nicht zu früh und nicht zu spät

Zunächst muss Sprache in ihrer Konkretheit und Sinnlichkeit empfunden werden. Erst dann kann sie in gesunder Weise zum Instrument des Denkens werden. Lernt ein Kind mit drei oder vier Jahren lesen, wird es in diesem Alter intellektuell gefördert, so verliert es im großen Maß seine Intuitionskraft und die empfundene Sprache zugunsten einer gedachten Sprache mit Verstandessicherheit. Die empfundene Sprache ist aber die Grundlage für die Entfaltung der Empathie und für das Zurechtkommen im Sozialen. Und gerade das soziale Kommunizieren mit der (fremden) Umwelt ist ein wesentliches Ziel des Fremdsprachenunterrichts.

Die Entwicklungsphasen des Kindes geben uns Hinweise, wie wir mit den zwei Aspekten der Sprache umgehen sollten. Lange muss die empfundene Sprache im Vordergrund stehen und die gedachte Sprache nur im Hintergrund vorhanden sein. Aber wie lange? Wann tritt die gedachte Sprache in den Vordergrund und die empfundene zurück, ohne zu verschwinden?

Der Blick fällt auf das elfte, zwölfte Lebensjahr, das Alter in dem die naturwissenschaftlichen Fächer auftauchen und das Denken in einer noch anschaulich-bildhaften Weise aus­gebildet wird (sechste Klasse). Im Fremdsprachenunterricht muss diese Wende vom Vorherrschen der empfundenen zum Vorherrschen der gedachten Sprache gestaltet werden. Welche Methoden und Übungen ergeben sich daraus?

Der künstlerische Umgang mit der empfundenen und der gedachten Sprache

Wenn man weiß, dass die Sprache ebenso wie der Mensch Entwicklungsstufen durchmacht, verfeinert sich die Arbeits­weise im Klassenzimmer beträchtlich.

Zunächst ist die Sprache mit dem ganzen Leib des Menschen verbunden. Das ist die Körpersprache, die uns vertraut ist, aber auch die Klangsprache. Kleine Kinder spielen und murmeln vor sich hin, haben Freude am Artikulieren von Lauten und machen mit dem Kehlkopf nach, was sie sonst mit Bewegungen tun. Die Körper- und Klangsprache lässt sich nicht wortwörtlich erfassen. Sie bleibt Bild. Das Denken, das die Sprache auf einen genauen Inhalt fokussieren würde, fehlt ihr. Dennoch versteht jeder, indem er innerlich die Gebärde nachahmt.

Etwas anderes ist Sprache, die in einem Kontext steht. Hier sind Gedanken in der Sprache anwesend, aber die Sprache bleibt noch bildhaft. Wenn jemand sagt: »Sie waren mit Kind und Kegel unterwegs« hat es keinen Sinn zu fragen: »welche Kegel«? Die Kontextsprache ist nicht primär mit Gebärden und Klang verbunden, sondern wir »atmen« uns in eine Situation, in den Kontext einer Aussage hinein und erfassen die Aussage intuitiv mit dem Gefühl, mit dem Herzen.

Wieder etwas anderes ist die Sprache der Vorstellungen. Das ist die Sprache, die Gedanken vermittelt, die wir täglich sprechen. Um sie zu verstehen, brauchen wir unseren Kopf. Können wir kein Russisch, dann kommt unser Kopf beim Hören der russischen Sprache nicht zum Denken, wir können nur Gebärden, Klänge und Stimmungen festhalten. – Anthropologisch gesehen haben wir auf der einen Seite die Sprache des Körpers und des Klangs; ihr gegenüber steht die Sprache des Kontexts, der Vorstellungen.

Daraus ergeben sich folgende Charakteristika für den Unterricht:

Die Waldorfpädagogik hat eine Methodenvielfalt entwickelt, die dem Lehrer ermöglicht, bis zur sechsten Klasse mehr Übungen mit der empfundenen Sprache zu praktizieren  und von der sechsten Klasse an nach und nach zu mehr Übungen mit der gedachten Sprache zu greifen. Erscheint es notwendig, eine Klasse oder eine Gruppe von Schülern oder einzelne Schüler mehr zu wecken, dann wird der Lehrer, mehr Übungen zur gedachten Sprache anbieten. Ist eine Klasse unruhig, nervös, zappelig, dann greift er in die Kiste der Übungen mit der empfundenen Sprache. Es entsteht so eine Praxis der Erziehungskunst, die versucht, die Schüler in ihrer Entwicklung zu fördern, den Übergang vom intuitiv erlebenden Kind zum selbstständig urteilenden Jugendlichen zu gestalten.

Die sprachlichen Valeurs

Rein abstrakt betrachtet, ist die Vielzahl der Sprachen ein Hindernis. Es wäre viel einfacher, sich gedanklich zu verständigen, wenn man eine Einheitssprache hätte, sei es Englisch oder Esperanto. Wo liegt dann der Wert der Fremdsprachen? Er liegt in den sprachlichen Valeurs. An den sogenannten Kollokationen sieht man das deutlich: der Deutsche spricht vom »starken Regen, vom starken Tee, vom starken Wind, vom starken Raucher« … der Engländer aber von »heavy rain, strong tea, strong wind, heavy smoker«. »Warum machen es sich die Engländer so schwer?«, fragt man sich als Deutscher von der kognitiven Ebene her. Wenn man sich dagegen in die Mentalität der fremden Völker versetzen und ihre Empfindungen nachspüren kann, fängt man an, die Unterschiede zu genießen (hier den Unterschied zwischen Stärke und Intensität).

Der Fremdsprachenunterricht der Waldorfschule legt einen großen Wert auf diese sprachlichen Valeurs, die persönliche Beziehungen zur fremden Umwelt schaffen. Das Ziel ist nicht allein, eine Fremdsprache zu lernen, um Gedanken in ihr zu formulieren, vielmehr sollen wir durch Sprache eine Beziehung zu einer fremden Kultur und zu – zunächst – fremden Menschen aufnehmen.