Perspektiven der Menschenkunde zum Einschulungsalter

Claus-Peter Röh

Beschreiben wir vom Gesichtspunkt der Waldorfpädagogik aus die Entwicklung des Kindes, so blicken wir auf unzählige Fähigkeiten, die sich der junge Mensch nach seiner Geburt Schritt für Schritt erwirbt, darunter die auffälligsten: Gehen, Sprechen und Denken. Offensichtlich wird diese Entwicklung vom angeborenen Lernwillen der menschlichen Individualität angetrieben.

In die kindliche Entwicklung strömen Kräfte von außen: Erziehung, Familie, Umfeld, Kultur und Gesellschaft nehmen Einfluss. Kann der heranwachsende Mensch diese äußeren Einflüsse in sich aufnehmen und mit seinen Anlagen verbinden, wachsen Ich und Welt harmonisch zusammen. Eine zu frühe Einschulung kann zu Einseitigkeiten, Dissonanzen und Entwicklungshemmungen führen. Schon 2010 deckte eine Studie auf, dass unzählige früh eingeschulte Kinder, die Ritalin erhielten, sich im Grunde nur altersgemäß verhielten. Unter dem Titel »Fehldiagnose Zappelphilipp« endete dieser Bericht mit den Worten: »Einfache Antworten gibt es nicht, aber zumindest legt die Stichtag-Studie jetzt eine Möglichkeit nahe: unreife Kinder ein Jahr später einschulen« (Spiegel 34/2010).

Organisches Wachstum als Ausdruck des Ichs

In den ersten sechs Lebensjahren verbindet sich die geistige Individualität des Kindes vor allem mit der organisch-leiblichen Entwicklung. Was in größter Hingabe an die Umgebung erlebt wird, verwandelt sich zum Impuls der Nachahmung im Willen: Über den Willen wirkt sie bei allen Bewegungen, vom Krabbeln bis zum Aufrichten und dem Meistern des Gleichgewichts, in die Bildung des Leibes hinein. Knochen und Muskeln werden ebenso von ihr durchdrungen, wie alle übrigen Organe. Zweierlei wirkt also zusammen: Von der einen Seite die vererbten physischen Anlagen, die eine Art »Modell-Leib« bilden, von der anderen die Individualität, die sich diese aneignet und sie dabei umgestaltet.

Von besonderer Bedeutung ist in diesem Lebensalter die Betätigung des eigenen Willens. Sie stärkt die Individualität und ihre Wachstumskräfte. Sie wahrzunehmen, zu achten und zu fördern, ist ein Kernanliegen der Waldorfpädagogik.

Kinder auf Erfolgskurs

Heutzutage werden die leibbildenden Lebenskräfte des Kindes frühzeitig in den Dienst der Wissensaneignung gestellt. So heißt es zum Beispiel in einem Programm für Fünfjährige: »Intensivtraining vor der Einschulung – Kinder auf Erfolgskurs – Es wird Lesen, Schreiben, Rechnen trainiert und das Sozialverhalten reflektiert.« Was geschieht, wenn das Kind intellektuell »trainiert« wird? Die Wachstumskräfte, die der Ausbildung eines gesunden Organismus dienen sollen, werden ihm entzogen. Man kann von einem »Raubbau« sprechen, dessen Folgen sich erst später zeigen. Außerdem wächst das Wissen, das dem Kind andressiert wird, nicht aus ihm selbst hervor und bleibt seinem Erleben äußerlich. Die Waldorfpädagogik lässt Nachahmung, Phantasie und Gedächtnis des Kindes vor dem Schuleintritt nach ihrem eigenen Tempo reifen, um den nachteiligen Folgen des genannten Raubbaus vorzubeugen.

Die Verwandlung der Wachstumskräfte in der Zeit der Einschulung

In der dritten und letzten Phase der Kleinkindzeit, zwischen dem 5. und 7. Lebensjahr, beginnen sich Teile der kindlichen Wachstumskräfte allmählich anderen Aufgaben zuzuwenden. Das Kind wird seelisch aufmerksamer, aber auch empfindsamer. Darin zeigt sich eine beginnende Emanzipation des Seelenlebens von den Wachstumsvorgängen. Ein Teil der organbildenden Kräfte wird frei und verwandelt sich in Kräfte des Denkens und der Phantasie.

Wir können in der Zeit des Schulübergangs am Kind seine Fähigkeit der innerlich durchwärmten Hingabe an die Welt beobachten. Sie zeigt sich daran, wie es aus sich heraus auf etwas zugeht, wie es spielt oder sich im Freien bewegt. Bis in die Mimik prägt sich diese Zuwendung zu Mensch und Welt aus.

Besonders auffallend ist der Zahnwechsel. Hier wird die Individualität bis in physische Prozesse sichtbar: Die Milchzähne hat das Kind aus dem Vererbungsstrom erhalten. Nun werden sie von den kräftigen, ganz anders geformten zweiten Zähnen herausgestoßen.

Medienkonsum trennt Leib und Seele

Schließlich werden aber auch Entwicklungshemmnisse sichtbar. Erzieherinnen berichten, wie das Gestalten des Leibes vielen Kindern heute schwerer fällt, während gleichzeitig die frühe Gedankenwachheit deutlich zunimmt. Hier spielt mit Sicherheit die Reizüberflutung durch Medien eine entscheidende Rolle. Die einseitige Ansprache der Intellektualität, die insbesondere durch Medienkonsum gefördert wird, gefährdet die Harmonie von Leib und Seele. Die beeinträchtigte Harmonie zeigt sich in zunehmender Labilität, Unsicherheit und Sensibilität. Waldorfpädagogen sprechen von »Dissoziation« zwischen Leib und Seele: Ein fünfjähriges Kind kann zum Beispiel im gedanklich-sprachlichen Bereich schon sehr aufgeweckt sein, zugleich aber in der Motorik, in der Ausbildung der Hände und Glied­­-maßen, in der Gestaltungsfähigkeit und im sozialen Miteinander noch stark kleinkindliche Züge zeigen.

Um diesen Kindern eine »Nachreifung« zu ermöglichen, haben viele Schulen »Brückenklassen« oder »Nullklassen« eingerichtet: Bevor die schulische Beanspruchung der Gedächtniskräfte einsetzt, wird hier in einem rhythmischen, gesundenden Tagesablauf die gesamte Sinnes-Organisation angeregt. Im Mittelpunkt steht die Ausbildung der Basal-Sinne: Die intensive Ansprache des Tast-, Lebens-, Gleichgewichts- und Eigenbewegungs-Sinns ermöglicht es den Kindern, ihren Leib stärker zu ergreifen.

Die Ausdruckskraft hat nachgelassen

Die beschriebene Gefährdung der Gesundheitskräfte im Alter des Schuleintritts findet auch in den Zeichnungen und Arbeiten der Kinder einen Ausdruck. Betrachten wir die Bilder der Schuleingangs-Untersuchungen aus den letzten 20 Jahren nebeneinander, so bemerken wir ein deutliches Nachlassen der Ausdruckskräfte: Viele Bilder sind heute blasser und es finden sich die Motive von »Baum, Haus, Mensch und Sonne« oft in dünnen Strichformen äußerlich umrandet. Ein Beispiel:

Da dieses »Blasserwerden« der Einschulungsbilder sich als länderübergreifendes Phänomen zeigt, liegt der Gedanke nahe, dass es sich hier um eine Folge der Kulturentwicklung handelt: Durch die zunehmende Sinnesreiz-Überflutung sind die Kinder zunehmend passiv, während Phantasie und Ausdruckkraft abnehmen.

Das Mädchen, das dieses Bild beim Einschulungsgespräch malte, besuchte zunächst einen städtischen Kindergarten und wechselte mit sechseinhalb in die Waldorfschule. Nach wenigen Tagen des stillen Staunens begann es jede Bewegung, jeden Rhythmus, jede Arbeitsaufgabe und jedes Lied so kräftig aufzugreifen, dass es bald zu den tragenden Kräften der neuen Gemeinschaft zählte. Auch im Fachunterricht arbeitete es mit einer solchen Intensität, dass es nach getaner Arbeit manchmal zur Mittagszeit im Hort vor erfüllter Müdigkeit einfach einschlief. Allen beteiligten Erziehern und Lehrern entstand der Eindruck, dass dieser junge Mensch nach der Ausreifung der Gesundheitskräfte im Kindergarten bis hin zu einem kräftig einsetzenden Zahnwechsel nun ganz aus der inneren Kraft des Ich heraus diesen Lernwillen hervorbrachte und tatkräftig einsetzten konnte.

Individualisierung der Ätherkräfte

An diesem Beispiel zeigt sich auch, wie die geistige Individualität sich anderen Aufgaben zuwendet. Nach der Organ- und Leibbildung in den ersten sieben Lebensjahren, beginnt sie nun die freiwerdenden Wachstumskräfte durchzuarbeiten. Die Waldorfpädagogik bietet eine Fülle sich rhythmisch wiederholender Aktivitäten an, um diese Arbeit zu fördern. Sie gliedert beispielweise den Unterricht in Begrüßung – Morgenspruch – Gesang – Bewegung – Erinnerung – Gespräch – schriftliche Arbeit – Erzählung – Verabschiedung. Gelingt es, diese freiwerdenden Kräfte »durchzuorganisieren«, wie Steiner in seiner »Meditativ erarbeiteten Menschenkunde« sagt, dann gehen die Schüler gegen Ende der ersten Klasse mit neuen Kräften und Ansätzen auf Herausforderungen zu: Gut ein Jahr nach dem Einschulungsbild malte die genannte Schülerin noch einmal ein Baum-Haus-Mensch-Sonne-Bild.

Eine deutlich gewachsene Gestaltungskraft ist hier erkennbar. Das Bild spiegelt die innerlich engagierte, freudige Arbeitshaltung der Schülerin. Auch ein ganz individueller Grundzug ist erkennbar: Offenbar werden die aus dem Organismus freigewordenen Kräfte nun ganz von der Individualität ergriffen, bewegt und verwandelt.

Hier stellt sich die Frage, wie diese Individualisierung der frei gewordenen Wachstumskräfte gefördert werden kann. Eine Voraussetzung ist sicherlich die innere Aktivität des Kindes. Mit wachsendem, freudigem Engagement und bis in den Willen fließender Regsamkeit baut sich unmittelbar ein Strom neuer Lebenskräfte auf. – Von entscheidender Bedeutung ist auch, welche Kräfte aus dem organischen Wachstum der ersten Lebensjahre mitgebracht werden und zur Verfügung stehen: Konnte das Kind seinen Modell-Leib lange genug in der Nachahmung individualisieren? Haben sich im freien Spiel so viele eigene Willens- und Bewegungsansätze ausgebildet, dass nun mit Schulbeginn eine individuelle Regsamkeit als Grundlage für das neue Lernen vorliegt? In diesem Sinne basiert diese zweite Individualisierung der Lebenskräfte im schulischen Lernen auf der ersten Individualisierung des Modell-Leibes in den Kindheitsjahren.

Die geistige Freiheit des Schulkindes, das Lernen aus eigenem Impuls, fußt somit auf der nachahmenden Gestaltungs- und Bewegungsfreiheit in den vorangehenden Lebensjahren des Kindes.

In diesem Zusammenhang liegt eine Begründung dafür, warum die Lebenskräfte des Vorschulkindes nicht zu früh durch schulisches Lernen geschwächt werden dürfen.

Eltern und Erzieher müssen entscheiden

Stehen wir als Erzieher oder Eltern vor dieser Frage des »zu früh oder zu spät?« der Einschulung, richtet sich der Blick zunächst auf den Zusammenklang der leiblichen und seelischen Entwicklung: Zeigt sich in der Art der Leibbildung, des Auftretens, der Bewegung und des gemeinsamen Spielens eine Reife, die ein eigenständiges Miterleben des Unterrichts ermöglicht? Wie verhalten sich die seelischen Fähigkeiten des Zuhörens, des Sprechens und Verstehens dazu? Beginnt ein Interesse für die umgebende Welt zu erwachen, wie es bei vielen schulreifen Kindern der Fall ist? Eine Zusammenschau dieser Ebenen kann ein harmonisches Bild ergeben, aber auch das Bild einer Dissoziation. Bei Zweifeln darüber, ob ein Kind schulreif ist oder nicht, wird sich die verantwortliche Erzieher-Gemeinschaft mit den Eltern und dem Schularzt beraten.

Aus der gemeinsamen Beratung von Erziehern und Eltern kann sich aber auch ein Gesamtbild davon ergeben, in welcher Weise und bis zu welchem Grad die Individualität des jungen Menschen den ererbten Modell-Leib durcharbeiten und verwandeln konnte. Haben Erzieher und Eltern erlebt, wie sich das innere Wesen des Kindes in der Nachahmung äußerte, wie es in ureigener Weise Handlungen und Spiele ergriffen hat, dann verwandelt sich die Begegnung mit dem Kind: Eine Haltung der Achtung und Ehrfurcht bildet sich und es entsteht damit auch eine feinere Aufmerksamkeit für die Art, wie dieser junge Mensch seine nächsten Tätigkeiten ausübt. Die Eltern und Erzieher beobachten das Kind im täglichen Umgang aber nicht nur, sondern beeinflussen auch seine Entwicklung. Sind sich alle Erzieher einig, dass es noch zu früh für die Einschulung ist, dann wirkt sich ihre Entscheidung nicht nur auf das folgende Jahr aus, sondern auf das ganze folgende Jahrsiebt. Wird es »zurückgestellt« oder in eine Brückenklasse aufgenommen, vermag es seine Lebens- und Gesundheitskräfte weiter ausreifen zu lassen, was für seine gesamte weitere Schullaufbahn, ja für sein ganzes Leben von Bedeutung ist.

Zum Autor: Claus-Peter Röh war 28 Jahre Klassen-, Musik- und Religionslehrer an der Freien Waldorfschule Flensburg; heute leitet er zusammen mit Florian Osswald die Pädagogische Sektion am Goetheanum in Dornach.

Literatur:

»Fehldiagnose Zappelphilipp«, Der Spiegel 34/2010 |R. Steiner: Die Methodik des Lehrens, GA 308, 9. April 1924 | Ders.: Erziehungs- und Unterrichtsmethoden auf anthroposophischer Grundlage, GA 304, 19. April 1922 | Ders.: Meditativ erarbeitete Menschenkunde, GA 302a | H. Piaskowski: »Kinderzeichnungen heute und vor elf Jahren als Ausdruck der Entwicklung zum Zeitpunkt der Schulreife«, Medizinisch-Pädagogische Konferenz, Heft 37 / Mai 2006