Historisch

Pionierin der Waldorfpädagogik in Frankreich: Henriette Laussinotte-Bideau

Nana Göbel
Henriette Bideau

Ein Ergebnis war – mit einem Empfehlungsschreiben von Alice Sauerwein ausgestattet – ein mehrmonatiger Aufenthalt der jungen Simonne Rihouët (1892–1982) an der Stuttgarter Waldorfschule, wo sie die neue Pädagogik intensiver kennenlernte. Anschließend zog sie ans Goetheanum in Dornach, um Eurythmie zu studieren. Beide Damen standen trotz ihres Altersunterschieds zunächst in einem recht freundschaftlichen Verhältnis zueinander, was sich nach dem Tod Rudolf Steiners änderte. Simonne Rihouët-Coroze übernahm 1930 die Nachfolge von Alice Sauerwein als Generalsekretärin der Französischen Anthroposophischen Gesellschaft. Und die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Damen lähmten viele Bemühungen.

Bereits 1924 soll es eine von der jungen Eurythmistin Simonne Rihouët gegründete Waldorfklasse in Paris gegeben haben, die vermutlich nicht lange bestand. Simonne Rihouët organisierte aber in diesem Jahr eine Kinder-Eurythmiegruppe, an der auch die kleine Henriette Laussinotte (später Bideau) teilnahm. Letztere trat in einer kleinen eurythmischen Inszenierung auf, als Rudolf Steiner im Mai 1924 Vorträge in Paris hielt und bei dieser Gelegenheit am 25. Mai 1924 auch die Eurythmieschule von Simonne Rihouët besuchte. Die Beziehung der beiden führte außerdem dazu, dass Simonne Rihouët die junge Henriette Laussinotte zum Erlernen der deutschen Sprache an die Stuttgarter Waldorfschule schickte. Wieder zurück in Paris, begann sie neben ihrem Studium der Germanistik und ihrer Gymnasiallehrerausbildung das Sekretariat von Simonne Rihouët zu führen. In diese Zeit fällt ihre Heirat mit Marcel Bideau. 1939 verbrachte Henriette Laussinotte-Bideau gemeinsam mit ihrem Mann ein weiteres Jahr in Deutschland und wurde Zeugin des sich rasant ausbreitenden Nationalsozialismus. Den größten Teil der Kriegsjahre arbeiteten beide als Lehrer in einem Lyzeum in Le Havre. Nach dem Kriegsende zog Henriette Laussinotte-Bideau mit ihrem Mann erneut nach Deutschland. Beide unterrichteten nun Kinder der Angehörigen des französischen Militärs am französischen Lyzeum in Baden-Baden, wo sie bis 1953 blieben. Dort erlernten ihre eigenen Kinder die deutsche Sprache. Ihr ältester Sohn, Paul-Henri Bideau (1936–2009), verbrachte sogar ein Jahr an der Stuttgarter Waldorfschule. Er studierte anschließend Germanistik und verpflichtete sich zu zehn Jahren als französischer Beamter, nach denen er sich über Carl Gustav Carus an der Sorbonne habilitierte, ein Vorhaben, für das man damals durchaus zehn Jahre einplante. Das war auch der Grund, warum er dem Werben einiger Waldorfkollegen widerstand, doch eine Unterrichtstätigkeit an der Stuttgarter Waldorfschule aufzunehmen.

1948, während dieser Jahre in Baden-Baden, gründete Henriette Laussinotte-Bideau (1911–2001) zusammen mit Simonne Rihouët den Verein L’art de l’éducation (Erziehungskunst). Mit diesem Verein und einigen ihrer Freunde, darunter Hildegard Gerbert aus Tübingen, wollte Henriette Bideau die Impulse der Waldorfpädagogik in Frankreich bekannt machen. Außerdem übersetzte Henriette Bideau einige grundlegende Werke Rudolf Steiners zur Pädagogik ins Französische, immer wieder im fachlichen Gespräch mit ihrer Freundin Hildegard Gerbert, und veröffentlichte nach dem 1951 herausgegebenen Büchlein L'enseignement en France et le Plan scolaire d'une ecole Rudolf Steiner unter anderem einen Lehrplan für die Waldorfschulen in Frankreich. Überhaupt war sie eine der fleißigsten Übersetzerinnen der Werke Rudolf Steiners ins Französische.

Von 1948 bis 1951 fanden sich in Paris einige Menschen zusammen, die unter der Leitung von Simonne Rihouët-Coroze intensiv seminaristisch Anthroposophie und Waldorfpädagogik studierten. Teilnehmer dieser Arbeitsgruppe trugen in der Folge entscheidend zur Gründung sowohl des heilpädagogischen Instituts Les Fontenottes 1954 in Saint Julien du Saut durch Eric Arlin bei, als auch 1955 zur Gründung der – nach Straßburg – zweiten Waldorfschule in Frankreich, der Pariser École Rudolf Steiner in der Rue d'Alésia. Henriette Laussinotte-Bideau verließ zu dieser Zeit den Staatsdienst und nahm ihre Unterrichtstätigkeit an dieser Waldorfschule auf. Gemeinsam mit ihren Kollegen Jean-Louis Gaensburger (1926–2009), dessen Frau Elsa Heinzer (1926–2012) und mit Colette Bourqin († 2014) formte sie die ersten Etappen dieser Schule. Etwas später stießen Athys Floride (1924–2005) und René Quérido (1926–2004) zum Kollegium in der Rue d'Alésia hinzu. Auseinandersetzungen im Kollegium führten dazu, dass einige Kollegen die Schule bereits 1957 verließen und außerhalb von Paris die École Perceval in Chatou gründeten. Der Weg von Henriette Laussinotte-Bideau führte von da aus in immer stärkere Verantwortung für die Anthroposophische Gesellschaft in Frankreich, deren Vorstand sie in den 1960er Jahren und deren Generalsekretärin sie in den 1970er Jahren wurde, bevor sie diese Aufgabe an ihren Sohn Paul-Henri Bideau weitergab. Henriette Bideau wirkte insbesondere durch ihre Vortrags- und Übersetzertätigkeit für die Waldorfpädagogik in Frankreich, die sie, so lange sie konnte, aufrechterhielt.

Literatur: I. Diet: »Alice und Jules Sauerwein«. In: MaD Nr. 190, 4, 1994 | Chr. Lindenberg: Rudolf Steiner. Eine Chronik, Stuttgart 1988 | R. Matt: Henriette Bideau. In: Bodo von Plato (Hrsg.): Anthroposophie im 20. Jahrhundert, Dornach 2003 | N. Göbel: Die Waldorfschule und ihre Menschen. Weltweit. Geschichte und Geschichten. 1919 bis 2019 (3 Bände), Stuttgart 2019