Cheong Hie Lee kehrte nach ihrer Ausbildung nach Süd-Korea zurück, um dort an der Verwirklichung der Waldorfpädagogik mitzuarbeiten. Zunächst bildete sich eine größere Gruppe von Menschen, die von Anthroposophie und Waldorfpädagogik begeistert waren, dann aber rasch bemerkten, dass sie nicht nur eine, sondern gleich mehrere Initiativen ergreifen wollten – und so trennten sich die Wege.
Im April 2000 gründeten koreanische Aktivisten das »Zentrum zur Förderung der Anthroposophie in Korea«, Cheong Lee begann mit der Herausgabe einer Buchreihe »Spirit in Action«, die inzwischen sehr gefragt ist, veranstaltete Symposien über Waldorfpädagogik, knüpfte Kontakte zu japanischen Waldorfpädagogen, organisierte ein Eurythmie-Gastspiel des Else-Klink-Ensembles Stuttgart, hospitierte in deutschen Waldorfkindergärten und unternahm mit Pädagogen und Landwirten eine Studienreise nach Sekem in Ägypten.
Pisa-Primus auf Kosten der Kinder
Bis in die jüngste Zeit hinein belegte Südkorea in den vergleichenden Schüler-Leistungs-Studien die ersten Plätze. Bei der letzten wurde es von der chinesischen Stadt Shanghai abgelöst, liegt aber nach wie vor ganz vorne. Ginge es ausschließlich um diese Ergebnisse, könnte man das koreanische Erziehungs- und Bildungssystem um seine Erfolge beneiden. Fragt man aber nach den pädagogischen Methoden, den Lern- und Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen, die zu diesen »Erfolgen« führen, dann trübt sich das Bild. Schon im Kindergarten sind die Kinder in Jahrgangsklassen untergebracht, vereinseitigendes, intellektuelles Lernen dominiert. Die Vorgabe lautet: Je früher, schneller und leistungsorientierter, desto besser! Kaum geweckt und gefördert wird dabei die kindliche Schaffensfreude, die Phantasie, die Lust am Spielen. Die Dominanz der elektronischen Medienangebote im Kindergarten ist gewaltig und minimiert Welterfahrung, Weltbegegnung und Kreativität. Aber mehr und mehr Eltern, Erzieher, Lehrer und Dozenten an Hochschulen bemerken, dass bei den Kindern etwas schief läuft. Ihr suchender Blick wendet sich – oft per Internet oder über Auslands- und Studienaufenthalte – sinnvollen, den Grundbedürfnissen von Kindern entsprechenden Alternativen zu. Auf diese Weise ist die unübersehbare Kindheitsmisere auch Anlass zu Veränderung – und das lässt hoffen.
Ein Waldorferzieher-Seminar entsteht
Im Oktober 2002 wurde ich nach Seoul eingeladen. Am Ende einer Woche öffentlicher Vorträge und intensiver Gespräche mit den koreanischen Aktivistinnen stand die Vereinbarung zur Zusammenarbeit zwischen dem Waldorfkindergarten-Seminar in Stuttgart und dem »Verein zur Förderung der Anthroposophie in Korea«, der als Träger einer fünfsemestrigen Waldorf-Erzieherausbildung fungieren sollte.
Die Ausbildung begann im August 2003. Aufgrund der enormen Nachfrage bot das »Zentrum« seit 2006 jeweils zwei hintereinander laufende Kurse mit zusammen bis zu 150 Teilnehmern an. Auch das Curriculum ist in Zusammenarbeit der koreanischen und deutschen Dozenten entstanden. Seit Sommer 2012 gibt es nur noch einen großen Kurs für die Erzieherinnen (90 Teilnehmer) und ein Kursangebot für zukünftige Waldorflehrer (60 Teilnehmer).
Zweimal im Jahr reisen bis zu 30 koreanische Seminaristinnen nach Baden-Württemberg, um in Waldorfkindergärten, etwa in Stuttgart, Mannheim und Heidelberg, zu hospitieren. Ein Besuch am Goetheanum in Dornach schließt diese Reisen ab.
Die Waldorfbewegung fruchtet
Über 60 Einrichtungen – Kindergärten, Kinderhäuser und Kleinkindgruppen – in verschiedenen Städten Koreas werden derzeit in Waldorfkindergärten umgewandelt oder haben diesen Prozess vollzogen. Da es neben dem »Zentrum« zwei weitere Ausbildungsangebote zur Waldorferzieherin gibt, erhöht sich die Zahl der waldorfpädagogischen Einrichtungen auf mehr als 150. Ein Kreis von »tätigen Waldorferzieherinnen in Korea« übernimmt mehr und mehr Aufgaben der Qualitätsberatung und -sicherung in den Einrichtungen. Wenn irgend möglich, hospitieren auch die deutschen Dozenten in koreanischen Waldorfeinrichtungen.
Durch die steigende Zahl von Waldorfkindergärten wächst der Wunsch vieler Eltern nach weiteren Waldorfschulen. Bis Anfang dieses Jahres gab es fünf, Ende Februar 2012 ist eine sechste Schule dazugekommen, die vom »Zentrum« unterstützt wird. In den Seminarräumen des »Zentrums« werden regelmäßig Kinder therapiert, die den Kindergarten- und Schulstress nicht mehr ertragen können. Darüber hinaus bieten die Pädagogen des »Zentrums« Beratungen für Eltern an sowie Seminare und Kurse für Chorsingen, Malen, Färben und Handarbeiten. Anlässlich des zehnjährigen Jubiläumsfestes des »Zentrums« organisierten die Freunde in Korea eine Eurythmie-Tournee. 18 Mitglieder der »Jungen Bühne Witten« waren eingeladen. Es gab 25 Aufführungen für Kinder und Erwachsene in verschiedenen Städten Koreas, die von mehr als 7.500 Menschen besucht wurden.
Gelungene Partnerschaft
Seit neun Jahren arbeiten koreanische und deutsche Dozenten in einem mittlerweile großen Kollegium zusammen. Alle Dozenten sind ausgewiesene Fachleute der Waldorfpädagogik, viele koreanische Freunde sprechen zudem sehr gut Deutsch, da sie in Deutschland studierten. Und so freuen wir uns immer wieder auf die gemeinsame Arbeit, aus der heraus auch neue Aufgaben erwachsen. Und wir erleben: Das Feuer der Begeisterung brennt weiter.
Zum Autor: Peter Lang, Diplom-Pädagoge, Dozent und Seminarbegleiter an ausländischen Seminaren, Mitglied im Vorstand der Vereinigung der Waldorf-Kindertageseinrichtungen Baden-Württemberg e.V.