Fünftklässler, sagt man, seien harmonisch, freundlich, lebhaft, wohlproportioniert in Gestalt und Gebaren. Sie seien gut ansprechbar, lernwillig, ehrgeizig, wettbewerbsbegeistert – und überhaupt ganz wunderbar. Kinder eben, wie man sie sich erträumt. Zöge man einen Vergleich zur Menschheitsgeschichte, so entspräche dieses Lebensalter dem der griechischen Antike, die den Menschen und die Kunst als Maß aller Dinge und ein untrügliches Schönheitsempfinden als Messlatte für alles Tun betrachtete. »Gut«, dachte ich oft, »auch in der Waldorfpädagogik muss es Nischen für Nostalgie und Schwärmerei geben.«
Ich gestehe: Auch ich bin unter die Schwärmer gegangen. Freunde und Verwandte gerieten von Zeit zu Zeit schon ins Schmunzeln, wenn ich Geschichten aus dem Alltag der fünften Klassen auftischte und dabei unverhohlen begeistert von der Entwicklung der Kinder berichtete. Es waren nicht etwa hochzufriedene Unterrichtsreportagen, die ich da erzählte, sondern viele kleine Begebenheiten, Geschehnisse am Rande, Äußerungen der Kinder, Situationen aus ihrem Miteinander.
Klassenlehrer stehen gern im Mittelpunkt
Klassenlehrer lieben es insgeheim, wenn sie eine Zeitlang beinah unangefochtene Autorität sind. Zwar ächzen sie bisweilen unter der Last, eine Art Universalmenschen abzugeben, weil die Kinder das von ihnen erwarten – aber mir ist noch keiner begegnet, bei dem nicht eine gewisse Zufriedenheit darüber erlebbar gewesen wäre, dass in der Klassenlehrerzeit der Lehrer der »Bestimmer« sein darf und muss. Bestimmer sein – wer wäre, obwohl erwachsen, nicht so sehr Kind, dass ihm das nicht gefiele? Und wer sich nicht scheinheilig vor der Einsicht verschließt, dass dem so ist, der weiß auch, dass er als Lehrer gewissermaßen Bestimmer bis in die feineren Inhalte ist, bis in das, was er an Gesten vermittelt, an Authentizität, am eigenen Verhältnis zu dem, was er sagt und ist.
Der große Schwenk: vom Lehrer zu den Kameraden
Man ist also gewohnt, dass die Kinder sich an einem orientieren – nicht immer vordergründig, nicht immer ausgesprochen, nicht immer in Form des Gehorsams – durchaus nicht! –, aber der Lehrer spürt: Du bist die Richtlinie. Sei sie also auch! – Und mit einem Mal erlebt er einen Schwenk: mitten in der fünften Klasse. Denn plötzlich beginnen die Kinder, sich füreinander zu interessieren! Der Blick, mit dem sie einem morgens begegnen, ist immer noch offen, freundlich, erwartungsvoll. Doch man kann bemerken: Die Seele reckt sich mit neuer Energie den Kameraden zu. Der Lehrer merkt es an dem untrüglichen Gefühl: Weltrepräsentanten sind jetzt die Gleichaltrigen. Ein gutes Stück »Welt«, das sich so einfach nicht in Worte fassen lässt, gibt der Pädagoge jetzt an die Schüler ab. Und es stellt sich neben Erstaunen und leisem Zurücktreten ein eigenartiges Gefühl ein: Erleichterung! Dazu die Frage: Wie gehe ich jetzt damit um?
Ein Gutteil der neuen Begeisterung oder Beseelung der Kinder füreinander überträgt sich wie von selbst auf den Lehrer, wenn er »Kinds« genug ist, sich das einzugestehen. Denn dieser altersgemäße Enthusiasmus für den Ebenbürtigen, Gleichaltrigen, Gleichgestellten bringt mich auf eine Idee, die im Erwachsenenleben gern einschläft: Wieviel Stück Welt und welches Stück Welt bedeutet mir der andere, in dem ich den Ebenbürtigen entdecke? Eine spannende Frage! Was an uns ist denn ebenbürtig? Eine noch spannendere Frage. Frischer Wind hält also durch die Kinder Einzug auch ins Seelenleben des Lehrers, und er wird wohl anders über die Welt nachdenken und über das von ihr, was er verantwortet, als noch im Jahr zuvor. Das hält ihn auf Trab, und das ist gut so.
Postrevolution im Klassenzimmer oder: Kinder sind genial
Jeder Fünftklasslehrer wird den Tag erleben, an dem das Briefchenschreiben beginnt, das Weiterreichen zusammengefalteter kleiner Zettelchen unter den Bänken. Manchmal wird er auch Knöllchen durchs Klassenzimmer fliegen sehen, wenn er sich von der Tafel umdreht. Und jeder Lehrer wird sich an eigene Briefchen erinnern, die er weitergeleitet, heimlich geöffnet, selbst verfasst hat. Natürlich bildete unsere Klasse keine Ausnahme. Es wurden Briefchen gekritzelt, gefaltet, geschoben, geworfen, in den Ranzen gelegt, in Manteltaschen gesteckt. Die Lehrerin nahm’s wahr und tat eine Zeitlang, als merke sie nichts ... Woraufhin die Aktivität sich nur noch steigerte und immer unverhohlenere Formen annahm.
»Also wisst ihr«, sagte ich den Kindern irgendwann im Hauptunterricht, »ich bin ja schon ein wenig gekränkt. Ich weiß sehr wohl, dass man Briefchen verschicken und trotzdem aufpassen kann, aber so offensichtlich, wie ihr es macht, kann ich daraus nur ableiten, dass ihr mich für völlig blind haltet. Ich muss doch sehr bitten. Die wahre Kunst besteht darin, das völlig unbemerkt zu machen!«
Ich hatte es kaum (in einer riskanten Anwandlung von Humor) ausgesprochen, da bot sich noch selbigen Tags in der Mittagspause folgendes Bild: Ich saß in der Küche, die zu unserem Klassentrakt gehört, und korrigierte. Ein Kind nach dem anderen schlich auf leisen Sohlen an mir vorbei, in verschiedenste Richtungen. Mal wurde ich leise, aber sehr höflich nach Büroklammern gefragt, sonst aber herrschte eine eigenartige Produktionsstimmung. Irgend etwas Aufregendes schien im Gang zu sein, irgendein Ehrgeiz war geweckt, der befriedigt werden musste, irgend etwas, mit dem ich nichts zu tun haben sollte. Eifrig, still und leise.
Die »Schularbeitszeit« nach der Mittagspause begann, und ich blickte in erstaunlich zugewandte, offene Gesichter. Alle hörten aufmerksam zu – (huch?) – und irgendein stolzes Leuchten glitt da über die Antlitze, das mich untergründig beschäftigte, während ich noch anderes redete. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, mir hörte dennoch niemand zu …
Sie saßen aber weiterhin kerzengerade und hingen mir an den Lippen, wobei, was ich sagte, nun nicht so besonders inhaltsschwer war, dass es dieses Gebanntsein gerechtfertigt hätte. Mein Blick glitt irgendwann, wesentlich später, zufällig unter eine Schulbank. Und da erblickte ich die Ursache des kollektiven Stolzes. Auf Kniehöhe hatten die Schüler ein Verteilersystem für Briefchen installiert, das jedem Postingenieur eine Beförderung eingebracht hätte. In einer Dreiviertelstunde war das Ganze ausgedacht, besprochen, umgesetzt und mit erstaunlicher Genialität kommuniziert und sinnvoll gegliedert worden. Die Briefchen wurden mit Büroklammern ans Verteilerwerk geheftet und konnten durch Ziehen am Faden geräuschlos und unbemerkt ihrer Wege gehen. Mir fehlt das technische Geschick, dieses reibungslose Gesamtkunstwerk exakt zu beschreiben, aber es gab Umlenkstellen an gewissen Winkelpositionen der Tische – und sämtliche Schulbänke waren in dieses Fadensystem miteinbezogen. Wie ich später heraushorchte, waren auch Distribuenten bestimmt worden, die an Stellen saßen, die für das postalische Garnwerk nicht zugänglich waren: Sie mussten die Briefe in diese oder jene Richtung weiterlenken.
Was sollte ich sagen? Chapeau! Das war genial. Das wäre vor einem Jahr noch nicht denkbar gewesen. Hinzu kommt: Alle waren miteinbezogen, nur die Lehrerin nicht. Man hatte es ihr gezeigt, und zwar mit Phantasie und Eleganz! Es war eigenartig: Selten war ich so stolz auf meine Klasse, wie in diesem Augenblick. Und mit wenigen Geschichten habe ich so unverdient geprahlt, wie mit dieser, obwohl sie vordergründig weder von Unterrichtsinhalten, noch von Lernzielen, noch von sonst etwas Derartigem zeugt. ‹›
Zur Autorin: Katharina v. Bechtolsheim ist Klassenlehrerin der jetzigen sechsten Klasse der Freien Waldorfschule Kreuzberg.