Leoni kämpft. Sie will etwas zu Papier bringen, das die meisten Leute nicht einmal denken können. Könnten sie es, würde das die Welt verändern. Leoni folgt einer Spur, die erst entsteht, indem sie sie zieht und ergänzt, was noch gar nicht da ist. Dazu muss sie sich gleich auf mehreren Ebenen anstrengen, indem sie erst fühlt, was sie sucht, dann tut, was sie fühlt, und schließlich sieht, was sie gesucht hat. Leoni ist Drittklässlerin und übt sich im Formenzeichnen.
In zwanzig Jahren wird sich Leoni nicht mehr an die Einzelheiten ihrer Suche erinnern. Damit teilt sie das Schicksal aller Schüler, wenn sie die Schule hinter sich lassen: »Alle Überprüfungen des Wissens, das junge Menschen fünf Jahre nach Schulabschluss noch besitzen«, zeigen, so Gerhard Roth, Direktor des Instituts für Hirnforschung in Bremen und Präsident der Studienstiftung des Deutschen Volkes, »dass das Schulsystem einen Wirkungsgrad besitzt, der gegen Null strebt.« In seinem neuen Buch »Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt« weist Roth nach, dass beim Lernen weniger oft sehr viel mehr ist, ein Prinzip, das wir Erwachsene zwar gerne für uns selbst in Anspruch nehmen, das aber ausgerechnet gegenüber denjenigen nicht zu gelten scheint, die ohnehin am meisten lernen – unseren Kindern. Die werden noch immer mit bürokratisch verordnetem Wissen vollgestopft, während die Frage nach den Kräften, die beim Lernen gebraucht, gepflegt und aktiviert werden müssen, noch immer als exotisch gilt.
Und Roth fragt weiter: Werde ich als Schüler von meinem Lehrer zum Lernen eingeladen, ist er gewissermaßen mein Gastgeber, der sich über mein Kommen und meine Fortschritte freut? Selbst als Zuschauer in der Ecke des Klassenzimmers vermittle der Lehrer durch seinen Blick, seine Mimik, sein Interesse ganz unabhängig vom Stoff die eigentliche Botschaft, ob sich das Lernen überhaupt lohnt. Die Hirnforschung untermauert damit ein Erfahrungswissen, das wirkliche Pädagogen schon immer hatten. Auf die Beziehungen kommt es beim Lernen an, nicht auf abgepackten Wissenstransfer.
Was ist nun mit Leoni? Auch sie wird ihr Schulwissen irgendwann verlieren. Was bleibt? Damals, in der dritten Klasse hat sie im Malen einer Form Seelenkräfte kennengelernt, die in der Welt gestaltend wirken. Wenn Leoni ein paar Jahre später beginnt, die Welt der Ideen kennenzulernen, bringt sie Erfahrung in der Kunst mit, ihr Denken, Fühlen und Wollen in einem künstlerischen Prozess miteinander in Beziehung zu setzen. Auch wenn alles Schulwissen längst vergessen ist, wird sie diese Quelle seelischer Kreativität nicht verlieren.
Mit dem Ende der Schulzeit, sagt man, beginnt der »Ernst des Lebens«, etwas wirklich Neues gibt es nicht, sondern nur die nüchterne Fortsetzung des Alten. Leoni weiß es besser: Der Ernst war immer da, aber sie kennt die Schule und die Welt als einen Freund, der sich mit und durch sie wandelt.
Henning Kullak-Ublick, Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, seit 1984 Klassenlehrer in Flensburg, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)