Wenn es allein nach den Hymnen der Eltern ginge, die unsere erstmalig ausschließlich aus Quereinsteigern gegründete Klasse 5d im ersten Vierteljahr begleitet haben, dann wäre alles nur gut. Aber dass dem Gelingen einer solchen Klasse ein gehöriger pädagogischer Kraftakt gegenübersteht, ist die andere Seite einer Medaille, die an der Rudolf Steiner Schule Bochum nun seit knapp einem Jahr intensiv hin und her gewendet wird. Volkart Fritze, einer der erfahrenen Pädagogen an der Schule, stand Harald Thon zu einer ersten Einschätzung Rede und Antwort – und nahm dabei kein Blatt vor den Mund. Den Beitrag ergänzte Antje Liechti, die die Aufnahme-Gespräche mit Eltern und Kindern dieser Klasse geführt hat.
Quereinsteiger sind mittlerweile ein Faktor im Klassenbild fast jeder Waldorfschule. An der Rudolf Steiner Schule Bochum haben wir sie immer dann integriert, wenn die Chemie des bereits existierenden Klassenverbandes dies herzugeben versprach. Und wenn die Klassen nicht ohnehin bereits aus allen Nähten platzten. Da dies der Fall war, beschieden wir am Anfang des Schuljahres 2008/2009 die ersten Anträge von Grundschul-Viertklässlern, in die kommende fünfte Klasse unserer Schule zu wechseln, abschlägig. Erst als es zum Jahreswechsel zu einer Häufung von Anträgen kam, reagierte der Vorstand.
Vorstandsmitglied Christian Kröner ergriff die Initiative, war ihm doch bekannt, dass sich auch andere Schulen – zum Beispiel die Hibernia-Schule in Herne oder die Waldorfschule in Dinslaken – ebenfalls mit Quereinsteiger-Modellen beschäftigten. Einige Kollegiumsmitglieder sahen die Gefahr, zum unrühmlichen Vorreiter einer Vergymnasialisierung von Waldorfschulen zu werden – und das zu einer Zeit, in der uns die Kultusbürokratie mit der Verkürzung der Schulzeit bis zu den mittleren Abschlüssen ohnehin gerade erst eine harte Nuss zu knacken gegeben hat: Wie kann in Zukunft das 12. Abschlussjahr der Waldorfschulzeit für die Jugendlichen so attraktiv gehalten werden, dass nicht schon nach ihrer Mittleren Reife ein Abwanderungsimpuls einsetzt?
Erst als das Für und Wider in teils kontrovers geführten Diskussionen abgewogen worden war und sich mit Volkart Fritze einer jener Pädagogen aus dem Kollegium fand, die dieser besonderen Herausforderung positiv und interessiert gegenüber standen, gab der pädagogische Kern der Schule grünes Licht. Vorbehalte jedoch blieben bestehen, wie etwa die bis heute ungeklärte Frage, in wie viel Zeit eine Klasse, die ausschließlich aus Quereinsteigern besteht, zu positiv auffallenden Mitgliedern der Schulgemeinschaft heranreifen kann. Oder ob es ohne den »Gefühlsunterbau« der ersten vier Waldorfjahre nicht nahezu unmöglich ist, dieses Heranführen an die Qualitäten unserer Schule zu bewältigen. Hier sollten gleich die ersten Tage nach der Einschulung im Sommer 2009 Wasser auf die Mühlen der Bedenkenträger spülen. »Dass der Unterschied der eingeübten sozialen Muster zwischen unseren ›Waldorfkindern‹ und den Dazugekommenen so immens sein könnte, hätte ich niemals gedacht«, erinnert sich Volkart Fritze.
Die Hürden der ersten Zeit: Ungewohnte Aggressivität
Schon bei der Einschulungsfeier wurde klar, dass bei der Integration der neuen Klasse mit Hürden zu rechnen wäre. Auch gab es in den ersten Schultagen Situationen, deren ungewohnter Aggressivität Aufsichtsführende und die restliche Schülerschaft etwas erschreckt gegenüberstanden. »Bis heute komme ich manchmal nur weiter, wenn ich verschärften Druck auf einzelne Störer ausübe – um so den Unterricht für alle überhaupt ertragreich gestalten zu können«, berichtet Fritze. Dabei fing alles so vielversprechend an: Nachdem einmal die Entscheidung für eine »Balkonklasse « getroffen worden war, legte die Schule im Expresstempo einen Prospekt auf, der auch an anderen Stellen gut eingesetzt werden konnte: »Chance Waldorfschule = auch eine weiterführende Schule!«. Nachdem auch die Tageszeitung auf das Vorhaben hingewiesen hatte, zeigten viele Eltern aus der Region Interesse. Recht zügig waren die wirtschaftlich erforderlichen 18 Schüler beisammen. Zudem hatte sich an den Eltern-Info-Abenden der Kern einer viel versprechenden Klassengemeinschaft angedeutet. Dass es dann letztlich 23 Schüler werden würden, konnte im Frühjahr 2009 niemand ahnen.
Als das Schuljahr 2009/2010 begann, waren jedenfalls alle Fragen nach Lehrern, Räumen und Rentabilität befriedigend beantwortet und das Experiment konnte beginnen.
Eine neue, spezifische Konzeption wird geschaffen
Natürlich gingen dem Start ausgiebige pädagogische Erwägungen voraus, an deren Ende eine spezielle, auf die neue Klasse zugeschnittene Konzeption stand:
- Zugunsten von mehr Üb- und Verfügungsstunden übernimmt der Klassenlehrer eine deutlich gesteigerte Präsenz in seiner 5. Klasse.
- Die neuen Schülerinnen und Schüler haben mehr Musik- und Werkunterricht (Handarbeit und Holzwerken) als sonstige fünfte Klassen.
- Das fünfte Schuljahr beginnt mit nur einer Fremdsprache – die zweite kommt erst im sechsten Schuljahr hinzu.
»Mein Einsatz liegt kontinuierlich in der Nähe der Vollauslastung«, bekennt Fritze. »Wenn ich normalerweise für qualitativ vollwertigen Unterricht sehr von meiner Erfahrung profitieren kann, ist in der 5d ein Ende des Einsatzes mit allen zur Verfügung stehenden Kräften noch nicht absehbar!« De facto bedeutet dies: Während Fritze in sonstigen Klassen von 28 Stunden etwa 18 selbst in der Klasse war, ist er nun in fast 24 von den 28 eingebunden, damit alles funktioniert. Das strengt ihn an – der Wunsch nach Entlastung schießt schon einmal durch den Kopf.
Wie können die Quereinsteiger integriert werden?
Die Integration warf weitere Fragen auf:
- Wo soll innerhalb der traditionell wohlabgestimmten Planung der Schuldienste die 5d ihren Platz finden? Welche Aufgabe soll die Klasse übernehmen, wenn es etwa um das Karussell der jährlichen Basardienste geht?
- Wie geht die Schule mit Eltern um, die nach den ersten Monaten ihres Kindes an einer Waldorfschule zwar enthusiastisch von der positiven Veränderung daheim berichten, die aber nicht von der ersten Klasse in die vielfältigen Aufgaben haben hineinwachsen können – für die also alles neu ist?
- Wird es gelingen, die Kinder innerhalb eines verantwortbaren Zeitraumes so in das soziale Miteinander einzubinden, dass Besuchern von außen auch bei den »Neuen« eine geringe Aggressionsneigung im Umgang miteinander auffällt?
- Wie bringen wir das Kunststück fertig, die Kinder in eine der Domänen unserer Schule, das Musikprojekt »Jedem Kind sein Instrument« (Jeki), einzubinden?
Das Musikprojekt »Jedem Kind sein Instrument« hilft
Mancher Anstrengung stehen aber einige positive Kontrapunkte gegenüber: Als Christian Kröner, einer der Begründer des mittlerweile auch in Hunderten von Staatsschulen etablierten Musikprojektes »Jeki«, in der 5d mittels einer Umfrage herauszufinden versuchte, mit welchen Instrumenten die Kinder denn in Zukunft umgehen wollten, förderte er Erstaunliches zu Tage: Alle Kinder, die ja bislang kein Instrument gespielt hatten, sprühten vor Neugier und Interesse.
Und nach ihren sonstigen Eindrücken befragt, meinten die Neuankömmlinge: »Ich finde es toll hier!« oder sie hatten keine weiteren Wünsche. Steht also doch ein guter Stern über dem Projekt? Entspricht dies unserem Dienst an der Gesellschaft, wenn Bildungs- und Erziehungsnot groß sind? Ein wichtiges Kriterium jedenfalls haben Fritze und Liechti schon ausgemacht: Nur bei ausreichend vielen Aufnahmeanträgen sei gewährleistet, dass man es nicht hauptsächlich mit »an anderen Orten des Bildungssystems Gescheiterten« zu tun bekommt.
Wie soll es weiter gehen?
Noch ist an der Rudolf Steiner Schule Bochum über eine Verstetigung solcher Balkonklassen keine Entscheidung gefallen. Da diese sich notwendigerweise an solchen Aspekten wie Rentabilität, Neubau weiterer Räume und einer titanischen Portion Kraft und Willen orientieren müssen, will dies wohl abgewogen sein.
Wie immer fußen Innovationen bei uns an der Schule auf pädagogischer Leidenschaft und beachtlichem Engagement des Kollegiums. Doch auch nüchterne Aspekte finden Gehör.
Spätestens im zweiten Schulhalbjahr muss der Weg vorgezeichnet sein, wenn sich im Sommer 2010 eine weitere 5d als Balkonklasse wiederholen soll. Reichlich Anträge kommender »Eltern in spe« liegen bereits vor, und zwar solche freien Willens – weil diesmal noch gänzlich unbeeinflusst durch die Prognose-Empfehlungen zum Ende des vierten Grundschuljahrgangs! Dies lässt diejenigen, die immer darauf gesetzt haben, die Waldorfschulen müssten breiteren Schichten der Gesellschaft offenstehen, ein positives Fazit ziehen: Nun melden sich nämlich auch solche Eltern, die eine Waldorfschule nach der vierten Grundschulklasse nie in Ewägung gezogen hätten – bis die Eltern der Nachbarkinder ihnen so von dem Quereinsteiger-Modell vorschwärmten.
Die Bochumer Rudolf Steinerschule im Netz.