Geschichtlich gesehen kann man den Rationalismus, den man vor allem mit der französischen Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts verbindet, bereits in Persönlichkeiten wie beispielsweise Sokrates (470-399) erleben, dem großen Lehrer und verehrten Vorbild von Platon (427-348/347).
Kann man Sokrates, der in Platons Werk mit hohen idealistischen Zügen geschildert wird, als Vertreter eines ursprünglichen Rationalismus sehen, so wird Platon in der einschlä- gigen Literatur als der eigentliche Begründer des Idealismus geschildert.
Beide Weltanschauungen haben – ebenso wie der Mathematismus – ihren Ursprung im Denken des Menschen. Die Worte Ratio – Vernunft, Gedanke – und Idee, weisen deutlich auf den Bereich unserer erkennenden Tätigkeit hin. Was unterscheidet diese beiden Sichtweisen?
Der Rationalismus in seiner reinsten Form sieht die Welt und den Menschen von einer überall wirkenden, allgemeinen Vernunft durchzogen, die im Menschen, als grundsätzlich gutem, vernünftigem Wesen, eine entsprechende Repräsentanz hat. Es ist hochinteressant, dass zwei hervorragende Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, Max Planck und Albert Einstein, tatsächlich eine Weltvernunft oder Weltintelligenz voll anerkannten. Als sie das taten, sprachen sie als Rationalisten in dem hier gemeinten Sinn.
Selbstverständlich wussten sie auch von den Abgründen der Menschennatur – wie jeder von uns. Dennoch weiß der echte Rationalist, dass solche Abgründe einen Abfall vom wahren Menschentum bedeuten und nicht dessen Essenz.
Wenn also Sokrates sagt, dass das Gute das Maß alles Handelns ist, oder wenn Epiktet (um 50-138) behauptet, dass in der Natur jeder Seele die Anlage liegt, dem Wahren beizustimmen und das Falsche zu verwerfen, so haben wir zwei Zeugnisse des Rationalismus im ursprünglichen Sinne des Wortes.
Natürlich, je nach Art der philosophierenden Persönlichkeit können sich dazu andere Weltanschauungsnuancen gesellen. Aber der zünftige Rationalist wird immer im Denken und in seinen Gesetzen den Hebel seiner Überzeugungen sehen. Und die Welt wird ihm in ihrem Kern als gut erscheinen und in ihrem Aufbau als sinnvoll. In dieser Güte – in der höchsten Idee des Guten, Wahren und Schönen in der ewigen Ideenwelt – sieht Platon faktisch den Gipfel aller Welt- und Menschenerkenntnis und die Quelle aller Moralität. Das ist der Kern des ursprünglichen Idealismus.
Verführung zum Abgründigen
Rationalismus – Idealismus: Der Mensch kann diese beiden Welten in sich integrieren und zur Harmonie führen, wie es auch bei den anderen Weltanschauungen der Fall sein kann. Darin sollte auch ein Ideal aller heutigen Pädagogik bestehen: eine in diesem Sinne allumfassende Humanität zu fördern, so wie es Wilhelm von Humboldt mit der Gründung der Berliner Universität beabsichtigte. Denn eine
Jugend ohne Ideale, also ohne einen echten, ethisch orientierten Idealismus, kann schnell zu Anderem verführt werden, wie uns die weltweite Rekrutierung von IS-Kämpfern zeigt – eine Verführung, die ein gesunder Rationalismus sofort als einen Abweg durchschauen würde.
Also kann der Idealismus schnell zu einer Ideologie verkommen, unter Umständen mit vernichtend-fundamentalistischem Einschlag und der Rationalist kann sein Denken in einer Art missbrauchen, die schlichtweg menschenfeindlich ist. Denn Gedanken sind nicht wertneutral.
Goethe lässt ja in seinem Faust den Teufel vor dem Herrn auftreten und betonen, wie sich der Mensch auf Erden plagt:
Ein wenig besser würd’ er leben,
Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;
Er nennts Vernunft und brauchts allein
Nur tierischer als jedes Tier zu sein.
Wer kann heute die relative Wahrheit dieses zynischen Spruches leugnen?
Wahr, gut und notwendig
Der Idealismus, der im Laufe der Jahrhunderte einige Wandlungen durchgemacht hat, sieht in den Ideen den treibenden Faktor der Weltgeschichte und das Agens, das alles Natürliche geschaffen hat. Ist er religiös orientiert, so weiß er, dass Gott – der Logos – das Leben und das Licht seiner Ideen in die Welt eingepflanzt hat oder – wie Hegel es anders herum formulieren würde –, dass in den Ideen des Menschen wahrhaftig Gott lebt. Und der Rationalist untersucht eher das Kausal-Sinnvolle der Naturphänomene oder der Geschichte, je nachdem wohin er sein Augenmerk richtet. Er ist deshalb oft auch Moralist.
Eine Fabel über Sokrates bringt diese ethische Haltung auf den Punkt. Eines Tages kam jemand aufgeregt zu ihm: »Höre, Sokrates, ich muss dir berichten, wie dein Freund…«. »Halt ein«, unterbrach ihn der Philosoph: »Hast du das, was du mir sagen willst, durch drei Siebe gesiebt?«. »Drei Siebe? Welche?«, fragte der andere verwundert. – »Ja! Drei Siebe! Das erste ist das Sieb der Wahrheit. Hast du das, was du mir berichten willst, geprüft, ob es auch wahr ist?«. – »Nein, ich hörte es erzählen, und …« – »Nun, so hast du sicher mit dem zweiten Sieb, dem Sieb der Güte, geprüft. Ist das, was du mir erzählen willst – wenn es schon nicht wahr ist – wenigstens gut?« Der andere zögerte: »Nein, das ist es eigentlich nicht. Im Gegenteil …« – »Nun«, unterbrach ihn Sokrates, »so wollen wir noch das dritte Sieb nehmen, und uns fragen, ob es notwendig ist, mir das zu erzählen, was dich so zu erregen scheint.« – »Notwendig gerade nicht …« – »Also«, lächelte der Weise, »wenn das, was du mir eben sagen wolltest, weder wahr noch gut noch notwendig ist, so lass es begraben sein und belaste weder dich noch mich damit.« So aktuell kann immer noch die Stimme des großen Atheners sein!
Zum Autor: Mario Betti war Waldorflehrer, danach Dozent an der Alanus-Hochschule in Alfter und am Stuttgarter Lehrerseminar. Er ist Autor einiger Bücher. Zuletzt erschienen: Leben im Geiste der Anthroposophie – Eine Autobiografie, Verlag des Ita-Wegman-Instituts, Arlesheim 2015