Ausgabe 04/24

Reallabor für enkeltaugliches Leben und Wirtschaften

Ben Hadamovsky

32 Hektar Land sowie zahlreiche teils denkmalgeschützte Gebäude boten vor 14 Jahren einen idealen Rahmen für ein spannendes Experiment: Wie geht enkeltaugliches Leben? Die mittlerweile 150 in Schloss Tempelhof lebenden Menschen, 110 Erwachsene und 40 Kinder, verstehen sich als Pioniere auf dem Weg in eine Post-Wachstums-Gesellschaft und erproben in ihrem Alltag, was es wirklich braucht, um mit den uns zustehenden Ressourcen langfristig ein erfülltes Leben im Einklang mit allen Menschen und der Erde zu führen.

Unsere Struktur: gelebte Dreigliederung


Um das Land aus der Bodenspekulation zu nehmen und eine zukunftsfähige Rechtsstruktur für die Bewirtschaftung und den Betrieb zu sichern, entwickelte die Gründergruppe, inspiriert von der Dreigliederung Rudolf Steiners, ein Konzept, das aus drei tragenden Säulen besteht: Die Stiftung hat Land und Gebäude gekauft und in einem Erbpachtvertrag auf 99 Jahre an die Genossenschaft verpachtet. Privatbesitz an Grund und Boden gibt es nicht. Die Genossenschaft ist eine geeignete demokratische Rechtsform für die Verwaltung unserer solidarischen Betriebe, denn alle Genoss:innen haben unabhängig von der Höhe der Einlage das gleiche Stimmrecht.  

Der Verein dient als Träger gemeinnütziger, sozialer und ideeler Projekte. Er ist Träger der freien Schule, des Waldkindergartens, der Lernbegleiter:innenausbildung, des Berufsorientierungsjahres (Zukunftsjahr) und zahlreicher weiterer sozialer und künstlerischer Projekte.

Da das Dorf über viele Jahre leer gestanden hatte, lag der Fokus in der ersten Zeit einerseits auf der Sanierung von Wohnraum und andererseits auf der Verlebendigung der durch Monokultur ausgelaugten Böden. Durch unser Konzept der regenerativen Landwirtschaft und unseren Waldgarten nach Permakulturprinzipien konnte durch aktiven Humusaufbau die Bodenfruchtbarkeit mit jedem Jahr gesteigert werden.

Unser sogenannter Market Garden ist einer der ersten in Deutschland, zentraler Betriebszweig und Forschungsfeld, um den biointensiven Anbau stetig weiterzuentwickeln. Hier bilden wir Gemüsegärtner:innen aus und geben in zahlreichen Seminaren Einblicke, wie dieses produktive Anbausystem in einem wirtschaftlichen Betrieb gelingen kann. Wir wollen eine größtmögliche Ernährungssouveränität erreichen und wirtschaften nach dem Prinzip der solidarischen Landwirtschaft. Die Erzeugung unserer Lebensmittel und die Zubereitung sowie Veredelung in unserer Küche für die Bewohner:innen und zahlreichen Gäste des Seminarbetriebs werden gemeinschaftlich finanziert und getragen. Das Wirken in die Welt und die Vernetzung mit inspirierenden Menschen und Initiativen waren von Beginn an ein wesentlicher Bestandteil der Gründungsvision. Als Konsequenz entstand bereits im ersten Jahr der Seminarbetrieb mit Gästehaus.

Wie aber konnte aus einem Jahre leerstehenden und verfallenden Lost-Place ein sprudelnder, generationenübergreifender, alternativer Kultur- und Wirtschaftsstandort mitten auf dem Land werden? Sicher hat die Vision einer Gemeinschaft, in der alle ihren Platz einnehmen dürfen, eine hohe Anziehungskraft. Die Erkenntnis, dass unser Heil als Gesellschaft nicht im weiteren Ausbau des Überindividualismus, der Vereinzelung und der Konkurrenz liegen wird, sondern Kooperation und Geschwisterlichkeit vielleicht die Kernkompetenzen der kommenden Dekaden werden könnten, mag ein weiterer Aspekt sein.

Daran arbeiten wir nun seit 13 Jahren mehr oder weniger ununterbrochen. Aber wir sind keine Insel der Seligen, wo alle in Harmonie einem gemeinsamen Ziel zustreben. Mit fast hundert Menschen ein so komplexes Unternehmen zu führen und alle Entscheidungen im Konsensverfahren zu treffen, ist kein Zuckerschlecken. Jede:r hat eine Stimme und wird gehört. Jede:r kann alles stoppen. Wir haben oft sehr kontroverse Ansichten darüber, was und wie etwas getan werden sollte. Dennoch üben wir uns beharrlich darin, im Gespräch zu bleiben. Wir nehmen uns Zeit und Raum, um immer wieder neu in Verbindung miteinander zu kommen. Wir üben uns darin, die andere Ansicht nicht als Bedrohung, sondern als Ergänzung zu sehen. Erst im Aushalten und Zusammentragen der unterschiedlichen Blickwinkel entstehen oft für alle überraschende Lösungen. Dafür braucht es die Arbeit von allen – am Ego und den eigenen Schatten.

Ökonomie in Gemeinschaft – eine stetige Herausforderung
 

In den ersten Jahren haben wir in unseren Betrieben erfolgreich mit Bedarfseinkommen experimentiert. Alle erhalten Geld entsprechend der eigenen Bedürfnisse. Die Landwirtschaft und die Küche wurden von allen in einer jährlichen Bieterrunde solidarisch getragen. Jeder hat so viel gezahlt, wie er selbst für angemessen hielt. Wir haben das Tempelhof-Einkommen erfunden, eine Art bedingungsloses Grundeinkommen, das wir Menschen gezahlt haben in dem Vertrauen, dass, egal was sie tun, es der Gemeinschaft dienlich sein wird. Gleichzeitig haben wir wirtschaftlich tragfähige Betriebe aufgebaut.  

In der Euphorie der Gründerjahre sind wir dabei oft weit über unsere Grenzen gegangen. Zahllose unbezahlte Stunden stecken in dem Projekt. Statt eigenes Vermögen aufzubauen, haben wir uns selbst Niedriglöhne gezahlt und oft noch unser privates Geld in den Aufbau der Gemeinschaft investiert, wissend, dass das zumindest für uns selbst aus ökonomischer Sicht keine direkten Vorteile bringen wird. Uns hat das Bewusstsein beflügelt, dass letztlich nicht Aktienpakete oder Lebensversicherungen, sondern Gemeinschaft und Beziehungen in der Zukunft wichtig und tragfähig sein werden.

Und immer wieder Wachstumsschmerzen auf dem Weg


Solange sich alle gut miteinander verbunden und im Kontakt gefühlt hatten, klappte das erstaunlich gut. Dann setzten nach einigen Jahren Ernüchterung und Erschöpfung ein. Misstrauen und Zweifel wuchsen. Die Begeisterung für die Ideen der Solidarität und Geschwisterlichkeit begann zu bröckeln. Anfangs gab es die Frage, was ist mein Beitrag für die Gemeinschaft und das Versprechen, dass wir füreinander sorgen. Im Lauf der Zeit entwickelte sich der Trend, sich mehr um das eigene Wohlergehen zu kümmern. Aus der solidarisch finanzierten Landwirtschaft und Küche wurde ein komplexes Modulsystem, das sicherstellen sollte, dass alle nur genauso viel zahlen, wie sie verbrauchen.

Zum Glück haben wir diese Phase überstanden. Mir kommt es heute wie ein Wunder vor, wie die Gemeinschaft den Umschwung geschafft hat, denn ich selbst hatte zu der Zeit den Tempelhof in einer persönlichen Krise verlassen.  

Aber vielleicht ist es auch kein Wunder, sondern eines der Geheimnisse von Gemeinschaft, das zur Überwindung und Weiterentwicklung geführt hat? Neue Menschen kamen mit frischer Inspiration und Begeisterung und haben dort weitergemacht, wo ich und andere aufgegeben hatten. Viele sind geblieben und haben treu und beharrlich ihren Impuls durchgetragen.

Heute sind wir ein komplexes, gut strukturiertes und wirtschaftlich stabiles Gebilde aus sozial-ökologischen Unternehmen und gemeinnützigem Bildungsbereich. Wir finanzieren unsere Landwirtschaft und Küche wieder solidarisch. Wir tragen die Kosten für unsere diversen Forschungsvorhaben und Experimente überwiegend noch selbst. Wir zahlen uns mittlerweile angemessene Löhne, was wiederum die durch Inflation und Energiekrise steigenden Lebenshaltungskosten am Platz weiter in die Höhe und uns in eine Preisspirale zu drängen droht. Und wir haben noch keine fertigen Antworten darauf, wie wir aus dieser Logik aussteigen können. Weitere Fragen sind, wie wir zum Beispiel unsere Mieten oder gar eine gemeinschaftliche Alterssicherung zukunftsfähig und fair organisieren können. Und ganz wichtig: Wie geht eine gerechte Wirtschaft, die nicht auf Kosten der Erde und künftiger Generationen lebt? Wie bauen wir Gebäude und wie geht eine Energieversorgung, auf die auch unsere Enkel mit Dankbarkeit blicken werden? Wie gestalten wir Gemeinschaften, in denen Menschen aller Generationen und Kulturen in Frieden und Verbundenheit zusammenleben können?

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