Gemeinsames Mittagessen in der Großfamilie. Irgendwas soll ausgerechnet werden. Iris sagt es falsch. »Kannst Du nicht rechnen? Warst Du in einer Waldorfschule?«, höhnt der Cousin meiner Tochter. Ihr Vater kontert: »Was sagst Du, wenn Du Dich verrechnest? Typisch öffentliche Schule?« Tatsächlich ist unsere Tochter im Rechnen nicht sattelfest und die letzten Jahre waren eine Herausforderung für die Eltern: Eine öffentliche, nette kleine Volksschule mit einer künstlerisch ambitionierten Lehrerin auf dem Land, Schulweg durch den Wald, an blühenden Blumen vorbei, Freundinnen im Ort statt täglich 60 Kilometer Autobahn – das kann ja nicht so wild sein, haben wir uns gedacht und uns vom Wunsch »Waldorfschule für unser Kind« verabschiedet.
Kein Honiglecken
Wir haben es unterschätzt: Den Druck, der auf den Kindern lastet, die Überlastung und Ängste der Lehrer, das Zurechtbiegen der Kinder, die überbordende Bürokratie im Hintergrund, das Verlangen nach Vergleichbarkeit. Tests, Tests und nochmal Tests … Waldorfeltern investieren auch viel Zeit, klagen über Elternabende und schmerzhafte Auswüchse unklarer Strukturen – auch das habe ich erlebt – als Kindergarten und Erstklass-Mama, als Tante und Patentante von drei gleichaltrigen Kindern in drei Waldorfschulen. Also bitte, hier einmal zum Vergleich: die öffentliche Schule ist auch kein Honiglecken.
Vierte Klasse Volksschule, die jüngeren Kinder sind 9, die Älteste in der Klasse ist schon bald 12. Es steht die zweite Mathematikschularbeit an. Textbeispiele und geometrische Aufgaben, Bruchrechnen, Divisionen mit zweistelligem Divisor, Umwandeln von Millimetern in Dezimeter. Erst vor kurzem sind Flächenberechnungen dazu gekommen. Stolz zeigt Iris ihren Handteller – ein Quadratdezimeter. Die Quadratdezimeter der Länge werden dann mit der Breite multipliziert, der Bedarf an Fliesen ausgerechnet. Ich freue mich: Nachdem wir – so wie etwa die Hälfte der Kinder in dieser Klasse – viele Nachmittage intensiv arbeiten mussten, damit der in der Schule etwas zu rasch präsentierte Stoff begreifbarer wurde, endlich wieder ein Bezug zur Wirklichkeit.
Auch Iris fühlt sich sicher, selbst das mysteriöse Dividieren erscheint endlich klarer, die Hausübungen gehen flott voran und das Üben für die Schularbeit geht diesmal ohne Tränen, Bücherwerfen und Verzweiflung. »Es könnte ein Einser werden«, denke ich mir schon. Aber das dicke Ende kommt doch noch: Am Tag vor der Schularbeit kommt ein neuer Übzettel: mm2 sollen tabellarisch in dm2 und m2 verwandelt werden. Die Nachbarklasse hat das schon gemacht und im Buch steht es schließlich auch.
Als Gefühl bleibt Unsicherheit
Dieses abstrakte Schema, für das jeder anschauliche Begriff fehlt, macht uns ratlos. Verzweiflung und Überforderung sind wieder da, die Freude an der Mathematik wie weggeblasen. Auch Iris beste Freundin, ein »Einsermädel«, bittet Ende des Schuljahres die Mutter, Lernmaterial für die Ferien zu besorgen: Das Gefühl der Unsicherheit ist geblieben.
»Mit Mathematik kann man einen Menschen aufbauen oder zerstören«, sagt mir ein ehemaliger Waldorflehrer, dem ich mein Leid klage. »Dabei ist es doch so wichtig als Übung, um einmal geistig arbeiten zu können!« Das ist auch meine Hauptkritik am öffentlichen System: Dass das Abhaken des Lehrplans, das (Über-)Erfüllen der Vorgaben in den Büchern wichtiger ist, als die Frage, wie sich die Kinder entwickeln. Und dass die Freude am Lernen damit ganz schnell ausgetrieben wird.
»Sie müssen doch mit Druck umgehen lernen«, höre ich dann. Doch es dreht mir den Magen um, wenn (äußerlich) erfolgreiche Volksschulkinder mit immer guten Zeugnissen wegen Bauchschmerzen nicht in die Schule gehen, vor Tests Tropfen brauchen und eine externe Lernbetreuerin, die mit ihnen Übungen in Raumorientierung und Stressbewältigung macht.
Wissensbulemiker
»Wir erzeugen Wissensbulemiker«, sagt der Direktor der Mittelschule auf die Frage, ob es sinnvoll sei, derartige Datenmengen in die Köpfe zu zwingen. 18jährige Abiturenten würden an Schularbeiten der 8. Schulstufe scheitern, kaum ein Erwachsener könne noch Prozent-Rechnen, zitiert er aus Forschungsergebnissen.
Er empfiehlt seinen Kollegen »Mut zur Lücke« und hat nach einem in Österreich neuen System geöffnete Türen in seinem Haus eingeführt: Damit die Lehrer die Angst davor verlieren, dass jemand sieht, was sie machen, und sich mehr austauschen. Ich schöpfe Hoffnung für die nächsten vier Jahre. In der Volksschule herrschte statt Mut zur Lücke der Drang nach »mehr desselben«. Wegen schlechter Pisa-Noten beim Lesen wurden in Österreich zusätzliche Lesestunden ab der zweiten Klasse Volksschule eingeführt. Wieder mit Benotung, Tests und Druck und auf Kosten der freien Zeit am Nachmittag – Zeit, die zum »Verdauen« des ganzen Stoffes dringend notwendig wäre. Oder sollen wir besser sagen: Zeit zum Kindsein? Kindsein dürfen – auch das war ein Punkt, der in dieser Volksschule zu kurz gekommen ist.
Als Schauspielaufgabe gab es »Models auf dem Laufsteg«, statt »normalen« Liedern mit der Möglichkeit, Mehrstimmigkeit zu üben, wurde ein Rap einstudiert, und wenn die Lehrerin sich in ihrem Abschlussbrief bedankt, dass die Kinder mit ihr ihre Freude an Musik geteilt haben, meint sie CDs hören und Trommeln.
Aufgabe: Seelen bilden
»Wissen diese Lehrer, dass ihre Aufgabe ist, Seelen zu bilden?«, fragt mich eine Waldorf-Oma, die drei Enkel in der öffentlichen Schule hat. In unserem Fall muss ich mit einem klaren Nein antworten: Ab der ersten Klasse ging es um Tests und Leistung. Um mehr Zeit zum Schreiben üben gebeten, sagt mir die Lehrerin: »Die Kinder müssen die Buchstaben können, damit sie die Aufgabenzettel für Mathematik bearbeiten können!« Klar, denke ich – damit wird der Lernerfolg auch rascher standardisiert kontrollierbar. Meine Gedanken schweifen weiter: Da nicht nur die Kinder, sondern auch die Lehrer kontrolliert werden, entsteht dieser absurde Kreislauf der Angst und Überforderung, der viele Lehrer in den Burnout drängt. Dazu noch die angeblich immer schlimmer werdenden Kinder … Seelennahrung ist eben etwas anderes, als ständig »Futter« für den Kopf nachzuschieben!
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Was der Verkehrspsychologin langsam zu dämmern schien, scheint im öffentlichen System Volksschule verloren gegangen zu sein.
Beispiel Rechnen im Zahlenraum bis zwanzig: »Wir zeigen den Kindern drei Möglichkeiten, wie man eine Aufgabe lösen kann und jedes kann sich dann aussuchen, welche es verwendet!«, erklärt mir stolz die Volksschuldirektorin. Eierkartons, Stangen mit Würfeln, die Umkehrung der Plusaufgabe (wie viel fehlt auf …).
Meine Tochter hat das verwirrt und es verwirrt sie bis heute – zum Beispiel bei den Divisionen. Weil nicht klar ist, dass eine »und wie viel ist«-Aufgabe tatsächlich ein Abziehen ist und es damit gar nicht auffällt, wenn ein Rest größer als die Anfangszahl bleibt.
Ein »Gut« haben? – Sehr gut sein!
Die Lehrerin hat sich in ihrem Abschiedsbrief dafür bedankt, dass die Eltern immer so brav mit ihren Kindern gelernt haben. Oft mussten wir das fertig machen, was in der Schule offen geblieben ist. Als einzige habe ich dann – auf Kosten von Plus und Sternchen – »genug für heute« ins Heft geschrieben, wenn eine Stunde überschritten und das Kind einfach nicht mehr aufnahmefähig war. Die anderen Mütter haben es durchgezogen. Dafür haben wir keine Magentropfen und Stressbewältigungsübungen gebraucht. Und Iris haben wir versucht zu vermitteln: Du bist tüchtig. Man kann »nur« ein »gut« haben und »sehr gut« sein – ein schwer greifbarer Unterschied.
Das Waldorfsystem schafft Motivation auch ohne Noten. Persönliche Wahrnehmung und Wertschätzung, das künstlerische Tun und Rhythmus als erzieherisches Element – das macht Erziehung ohne harte Bandagen, ohne Überforderung möglich. Und das Beste: Es gibt viel mehr Zeit für konzentriertes Arbeiten, wenn nicht ständig geprüft, ausgeteilt und Tränen getrocknet werden müssen.
Zur Autorin: Barbara Chaloupek ist freie Journalistin in Wien und beschäftigt sich seit 15 Jahren mit Anthroposophie und Waldorfpädagogik