Erziehungskunst | Warum hat Rudolf Steiner mit der Begründung der Waldorfschule nicht sofort den Religionsunterricht eingerichtet?
Stefan Grosse | Das ist eine Legende. Im ersten Entwurf des Lehrplans im April 1919 war vieles noch nicht enthalten. Dann gab es schon im August 1919 auf einem Elternabend die Frage nach der Religion. In der ersten Konferenz am 25. September 1919 spricht Steiner ausführlich über den Lehrplan für den freien Religionsunterricht. In diesem Zusammenhang stellt er klar, »dass man die Kinder einfach aufwachsen lässt ohne Religionsunterricht, das wollen wir nicht einführen«. Das heißt, er wurde verbindliches Fach für die Klassen 1 bis 12.
Elisabeth von Kügelgen | Später begründete Steiner, warum man den freien Religionsunterricht nicht für alle einführen könne. Er hatte große Sorge, dass die Waldorfschule dadurch als eine Weltanschauungsschule eingestuft würde. Am 18. April 1923 bemerkt er: »Ich betrachte das als eine Art von Erfolg, dass wir die Dissidentenkinder (Kinder, die konfessionell ungebunden waren; Anm. der Red.) auf diese Weise zum Religionsunterricht gebracht haben ... Das ist vom pädagogischen Standpunkt aus angestrebt worden bei uns« (GA 306). Ihm war das Fach äußerst wichtig. Man kann das nicht nur an inhaltlichen Aussagen festmachen, sondern auch daran, dass er, als er in den Jahren 1923/24 den Lehrplan der Klassen 1 bis 12, auch für den freien Religionsunterricht, fertig entwickelt hatte, in allen Kursen, die er in der Schweiz, den Niederlanden und England gab, dem Religionsunterricht einen ganzen Vortrag widmete. Die Begründung ist eine menschenkundliche: Wenn das Kind durch allen Unterricht, der wissenschaftlich, künstlerisch, religiös sein soll, schon ein ganzer Mensch geworden sei, brauche dieser ganze Mensch noch die religiöse Vertiefung (Ilkley, 15.8.1923). Bezüglich des von ihm gegebenen Kultus für die Sonntagshandlung für die Kinder führt Steiner aus, dass er in seiner Gesamtheit über Wort, Farbe, Musik, Form und Symbol wirke, damit die Konstitution des Menschen nachgebildet würde und den ganzen Menschen an das Göttlich-Übersinnliche anbinde.
Alles ins Gedanklich-Ideelle Gehende zersplittere den Menschen; das Religiöse, das Gefühls- und Willenshafte, am stärksten der Kultus, führe das Zersplitterte wieder in einer Tiefe zusammen, die anders gar nicht zu erreichen sei.
EK | Was genau ist nach Rudolf Steiner unter Religion und dem Religiösen zu verstehen?
SG | Es gibt etwas Religiöses, das in der Methode liegt. Und es gibt Religiöses, das im Inhalt liegt. Beides ist nicht an ein Bekenntnis gebunden, also überkonfessionell. Man muss sich befreien vom Bekenntnishaften in der Religion. Das Religiöse ist ein Lebensgefühl: Indem ich zum Beispiel eine Methode anlege, die damit rechnet, dass der Mensch sich in der Nacht verändert und mit gewandelten Impulsen aufwacht, ist das im Grunde eine religiöse Art, die Welt zu betrachten. Das ist die eine Schicht. Die andere Schicht ist, die Inhalte zu pflegen, die eine Vertiefung der Seele bewirken. Aus welcher Konfession die Inhalte kommen, ist nicht das Entscheidende für das Religiöse. Schärfer formuliert: Das Religiöse muss sich völlig frei von konfessionellen Inhalten entfalten können, weil es seelenbildend ist.
EvK | Für die Waldorfschule sagt Steiner, es gebe nur einen Grund, Religion zu unterrichten, und das sei der menschenkundlich-pädagogische. Alles andere sind fremdbestimmte Gründe. Für die gesamte Unterstufe fordert er: Keine Theologie, keine Gebote, es komme darauf an, über das Bild, die Symbolik und die Stimmung auf das Gefühl und den Willen zu wirken. Es ist nicht eine »moralische Veranstaltung«, sondern es geht um den Raum, in dem sich Gewissen und ein allgemein tolerantes, menschliches Lebens- gefühl ausbilden kann. Das Kind muss sich in seinem Leib und in der Welt beheimaten. Das ist schwer zu vermitteln, da wir Religion an den Waldorfschulen auch nach fast hundert Jahren immer noch als Konfession denken.
EK | Worin liegt der Unterschied, wenn in der dritten Klasse das Alte Testament im Hauptunterricht behandelt wird und dann nochmals im Religionsunterricht? Warum zweimal?
SG | Das ganze Setting im Hauptunterricht ist anders. Ich habe 35 Kinder vor mir und habe diese Gruppe, die ich mit einer kräftigen Erzählung greife. Es ist immer viel Stoff in einer überschaubaren Zeit. In der Religionsstunde habe ich eine kleine Gruppe, ich habe ein Drittel der großen Klasse. Ich kann viel dialogischer arbeiten, ich kann den Inhalt an das eigene Erleben anbinden. Ich kann zum Beispiel bei Moses die Figur näher und menschlicher machen. Moses ist eine gewaltige Führergestalt. Er hat aber auch eine Komponente, dass er scheitert. Er will ja nicht das Wasser aus dem Stein schlagen. Er hat große Zweifel, dass hinter dem Materiellen etwas Göttlich-Geistiges vorhanden ist. Dieser Zweifel ist sein Stolpern, aus dem entsteht, dass er das verheißene Land nicht erreicht. Er sieht es und stirbt dann. Das sind Dinge, die erzeugen menschliche Nähe. Da ist einer, der nicht alles hinkriegt. Solche Sachen kann man nur in einem Gespräch ausarbeiten, im feinen Zuhören. Ich kann genau auf die Fragen der Kinder eingehen und eine große innere Reichhaltigkeit und Gemüthaftigkeit angeregen.
EvK | Ich bin Oberstufenlehrerin. Aber ich durfte einmal von Klasse 1 bis 12 unterrichten. Das war ein großes Erlebnis. Wir haben über Wochen die Welt noch einmal erschaffen. Und die Kinder haben es so genossen, zu sprechen und zu verweilen bei den Dingen. Das geht in dieser Weise im Hauptunterricht nicht. Dies Phänomen haben wir auch in der Oberstufe einmal erlebt. Schüler vom freien Religionsunterricht hatten die Religionslehrer eingeladen. Sie wollten wissen, was uns am Religionsunterricht wichtig sei. Wir waren überrascht über diese Frage. Und es stellte sich heraus, dass die Schüler Religionsunterricht wollten – aber bitte in kleineren Gruppen. Es sei der einzige Unterricht, in dem sie wirklich mit uns sprechen könnten. Sie haben das Bedürfnis nach Zeit, sie wollen keinen Stoffdruck, sie wollen die Fragen besprechen, die sie beschäftigen. Wir haben da die Freiheit, zu hören, was kommt; was wollen die Schüler? Und dann schmeiße ich meine Vorbereitung eben weg.
EK | Wie sieht die Wechselwirkung zwischen den Religionsstunden und den anderen Fächern aus?
EvK | Als Oberstufenlehrerin hatte ich oft in den Klassen, in denen ich Geschichte und Deutsch unterrichtete, auch Religion. Die Wirkung war ungemein. Die Tiefe und Breite, die ich mit manchen Themen erreichen konnte, habe ich in anderen Klassen nie erreicht. Die Fächer haben sich gegenseitig befruchtet und es wurde möglich, an tiefe Schichten zu rühren. Steiner schlug drei Stunden pro Woche Religionsunterricht vor. Es sei wichtig, »dass die Schüler erinnert würden« – zwölf Jahre lang, dreimal in der Woche: Es gibt ein Göttlich-Geistiges. Der Name bringt etwas mit in den Raum. Das ist nicht zu unterschätzen. So sei auch die ideale Religionsstunde wie ein Kultus. Es müsste für einen Moment die Seele in dieser Richtung berührt werden.
EK | Wenn Religion und Kultus so zentral sind, warum dann nicht für alle?
EvK | Steiner bemerkte hierzu, dass mit dem Religiösen das Elternhaus am allerstärksten in die Schule hineinrage und man dem Rechnung tragen müsse. Der konfessionelle und freie Religionsunterricht war und ist ein Kompromiss, ein Kompromiss allerdings, hinter dem Steiner voll stand.
Wir haben an der Uhlandshöhe an der Oberstufe, als die Kirchen niemand mehr schicken konnten, nach Rücksprache mit Eltern und Schülern den freien Unterricht für alle in halben Klassen eingeführt. Der Handlungsbesuch muss freiwillig sein. Es gab in Bayern den Fall, dass eine Schule freien Religionsunterricht für alle anbieten wollte. Das kam vor Gericht. Die Eltern wollten das nicht. Es gibt ja auch Kollegen aus den Kirchen, die sehr positiv in der Schule mitarbeiten. Das andere ist, dass man ehrlicherweise sagen muss: Wir haben einen Notstand mit wirklich guten Religionslehrern. Wir haben in diesem Fach wenig vorgegebenen Unterrichtsstoff, wir haben nicht die Abiturkeule, sondern man ist auf sich gestellt und muss oft zu äußerst schwierigen Zeiten – mittags um halb drei – die Schüler motivieren. Nicht nur der ganze Mensch soll vertieft werden, sondern ich muss als ganzer Mensch ganz anwesend sein. Das muss ich wollen, sonst funktioniert das in der Oberstufe nicht. Die Kleinen lieben den Unterricht. Es ist auch klar, dass es in Israel jüdischen Religionsunterricht oder in arabischen Ländern muslimischen geben muss. Und trotzdem kann dieser Unterricht eingebettet sein in ein allgemein Religiöses.
SG | Auf die Frage, warum ist der freie Religionsunterricht nicht für alle eingerichtet worden, kann ich antworten: Das ist ein echter gesellschaftlicher Kompromiss an den Schulen mit völliger Anerkennung der Leistung der konfessionellen Religionsunterrichte.
EK | Ragt die konfessionelle Bindung heute auch noch so in die Schule hinein wie damals zu Steiners Zeiten?
SG | Heute ragt der Agnostizismus der Eltern hinein. Das religiöse Leben ist ziemlich zum Erliegen gekommen. Es ist im Grunde wenig, was heute hereinragt. Man kann sogar von einer bewussten Abwehr sprechen, wenn ein Vater nach dem Adventsgärtlein sagt: Komm, wir setzen da noch etwas drauf, wir gehen in Harry Potter.
EvK | Alle Unterrichte pflegen Wiederholung und Rituale. Rituale wirken sehr tief. Religion ist Willenserziehung. Die Steigerung des Rituellen ist der Kultus. Da merkt man, dass heute die Kinder aus unbeschreiblich arhythmischen Lebensverhältnissen kommen. Aber der Rhythmus ist das Gesundende. Heute hat man große Angst vor Religion. Auch ist es nicht mehr angesagt, sich zu öffnen, sich hinzugeben und zu staunen. Das gilt als Schwäche.
EK | Wie ist das Verhältnis zwischen Ethik und Religion?
SG | Die Ethik kommt an einer bestimmten Stelle in die Lehrpläne, nämlich dort, wo der Religionsunterricht Pflicht ist. Es ist eine Art Ersatzstunde. Positiv. Man will eine Erziehung zum Moralischen und Guten, außerhalb von dogmatisch gefassten Inhalten. Wenn man den freien Religionsunterricht in dieser Art auffasst, dass er sich mit dem Religiösen, mit dem Wahren und Guten befasst, dann könnte man eigentlich sagen: Indem er ein überkonfessioneller Unterricht ist, erfüllt er den Grundgedanken der Ethik.
Wie er aber dann letztlich daherkommt, ist er ein deskriptives Nebeneinanderstellen von verschiedenen Ansichten. Und vom sublimen Egoismus, der in dem Kantschen Diktum »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu« lebt, hat sich die Ethik noch nicht ganz befreit. Das muss man klar sehen. Doch gegen das redliche Bemühen, etwas Freieres zu schaffen, kann man nicht viel sagen.
EvK | Die Ethik ist abgelöst vom Göttlichen. Sie entspringt nicht dem Göttlichen, sondern ist eine Verabredung unter Menschen. Als Waldorfpädagoge gehe ich davon aus: Wenn ich meinen Schülern begegne, begegne ich einem Göttlichen. Wenn ich allen Unterricht in diesem überreligiösen Sinn gebe, aus einer spirituellen Gesinnung heraus – nur den Religionsunterricht nicht, denn da machen wir Ethik –, dann finde ich es seltsam, dass manche Waldorfschulen diesen Unterschied nicht sehen. Ich habe mit meinen Zehntklässlern besprochen, was der Unterschied zwischen Religion und Ethik ist. Auf die Frage, ob sie wissen, was Ethik sei, kam von einer Schülerin die Antwort: »Nein. Aber Religion ist so alt.« Ich habe Ethik immer in der 10. Klasse behandelt – dann war auch klarer, was Religion als Umfassenderes ist.
EK | Was charakterisiert den Religionsunterricht in der Unterstufe, Mittelstufe und Oberstufe?
SG | In den unteren drei Jahren ist Religion die Seinsgrundlage, die Schöpfung, das gewordene Göttliche, in dem der Mensch aufgehoben ist und sich beheimatet. Immer mit starker Gemütsbindung: Die Natur ist gottgewollt, der Mensch findet in der Natur Halt und das Gute. In der Mittelstufe ist es das Schicksal zwischen den Menschen. Gibt es im Schicksal eine Führung oder ist alles rein zufällig? An Biographien kann man sehr gut herausarbeiten, dass das Leben kein Zufall sein kann. In der Oberstufe gilt die Frage dem Denken: Was ist das Denken und das Vorstellen? Ist es reiner Nachvollzug der äußeren Welt oder ist der Gedanke schöpferisch, greift er etwas Geistiges? Es gilt, den Schülern deutlich zu machen, dass ich mit dem Gedanken etwas Wesenhaftes begreifen kann.
EvK | Für die Oberstufe gibt Steiner 1919 einen sehr modernen Lehrplan. Für die neunte Klasse nennt er zum Beispiel das Damaskus-Erlebnis des Paulus. Was bedeutet der gegenwärtige Christus hier und jetzt? Was ist das Christliche heute? In der 10. Klasse ist dann mehr Kirchengeschichtliches dran, die Konfessionen oder die persönliche Suche des Augustinus, aber auch die Auseinandersetzung mit Sekten, Gruppen und Gruppenzwängen sowie ethische Fragen. In der 11. und 12. Klasse sind dann die Weltreligionen Thema, aber so, dass man ihrem echten religiösen Kern gerecht wird. Methodisch soll man nach Steiner jetzt auf gedankliche Klarheit und selbstständiges Urteilen hinarbeiten. Es geht um Verständnis, nicht Wertung. Sie sollen in der Lage sein, wenn sie die Schule verlassen, aus Kenntnis und Übersicht ihre eigene Lebensorientierung zu finden. Das ist Ziel des Religionsunterrichts.
So finde ich es geradezu barbarisch, dass ausgerechnet heute, wo andere Kulturen und Weltreligionen ein derart zentrales Thema sind, an vielen Waldorfschulen Religion in der Oberstufe nicht mehr stattfindet.
EK | Warum besuchen heute so wenige Kinder die Sonntagshandlung?* Sollte sie in den Unterricht integriert werden?
EvK | Die Sonntagshandlungen waren lange sehr gut besucht. Ein Einbruch war die Einführung des schulfreien Samstags. Ab da gab es das lange Wochenende. Viele Schulen haben dann die Handlungen in die Schulzeit gelegt. Zumal Steiner selbst schon 1922 in Hamburg aufgrund der weiten Wege der Schulkinder einen Kompromiss gemacht und empfohlen hat, die Handlungen während der Schulzeit abzuhalten.
Es sei wichtiger, dass die Kinder das haben könnten, als dass es am Sonntag stattfinde, aber niemand komme. Steiner dachte ganz pragmatisch. Daraufhin wurde er gefragt, ob man den Text nicht ändern müsste, wenn es heißt, »allsonntäglich«. Nein, sagte er: Da, wo die Sonntagshandlung gehalten werde, sei immer Sonntag; das sei die Qualität des Kultus. So findet heute an der Mehrzahl der Waldorfschulen die Sonntagshandlung während der Unterrichtszeit statt – oft im rhythmischen Teil des Hauptunterrichts oder auch davor. Seitdem sind die Handlungen wieder gut besucht. Wenn die Eltern sich nicht kümmern müssen, ist es ihnen recht und die Kinder gehen gerne hin. Aber man muss die Eltern natürlich fragen.
EK | Wenn das Religiöse so seelenbildend ist, warum wird es nicht verbindlich für alle als wesentliches Element der Menschenbildung eingeführt?
EvK | Das geht nicht so einfach, weil nicht nur der Unterschied zwischen Religion als Konfession und dem Religiösen erkannt werden muss, sondern auch die menschen- bildende Bedeutung des Religiösen überhaupt.
Die Fragen stellten Ariane Eichenberg und Mathias Maurer.
Zu den Interviewpartnern: Elisabeth von Kügelgen war 38 Jahre Lehrerin an der Freien Waldorfschule Stuttgart-Uhlandshöhe für Deutsch, Geschichte und freien Religionsunterricht. Mitarbeit im deutschen und internationalen Religionslehrergremium, der Anthroposophischen Gesellschaft und Lehrerbildung.
Stefan Grosse ist Klassenlehrer und Lehrer für freien Religionsunterricht seit 1984 in Esslingen. Mitglied im internationalen und im deutschen Religionslehrergremium. Seit 2014 Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen.
* Auf einem Religionselternabend November 1919 wurden die Lehrer nach einer Sonntagsfeier für die Schüler gefragt. Daraufhin gab Rudolf Steiner nach Alterstufen die Sonntagshandlung für die Kinder, die Jugendfeier (entspricht der Konfirmation) und die Opferfeier für die Erwachsenen.