Rhythm is it! Herzrhythmus und Gesundheit

Christoph Hueck

Schwingendes Herz

Wir haben durch die medizinische Forschung heute die Möglichkeit, solche Anregungen Rudolf Steiners als physiologisch begründet anzusehen. Die Variabilität des Herzschlags (HRV) wurde in den letzten 15 Jahren als ein wesentlicher Indikator für Gesundheit und Krankheit untersucht. Das Herz schlägt nicht taktförmig, sondern innerhalb weniger Sekunden mal schneller, mal langsamer, je nach körperlicher, aber auch nach psychischer Beanspruchung. Dass es so variabel ist, ist ein Zeichen von Gesundheit.

Je eingeschränkter der Herzschlag auf unterschiedliche Einflüsse reagiert, desto potenziell kränker ist der Mensch. Dies ist sogar ein altes Wissen. Schon im 3. Jahrhundert schrieb ein chinesischer Arzt: »Wenn das Herz so regelmäßig schlägt wie der Regen vom Dach tropft, wird der Patient innerhalb von vier Tagen sterben.«

Die Variabilität des Herzschlags beruht auf einem ausgewogenen Zusammenspiel des »sympathischen« und des »parasympathischen« Astes des vegetativen Nervensystems. Der sympathische Ast ist der »Leistungsnerv«, der bei entsprechender körperlicher oder auch seelischer Anspannung (z.B. beim Kopfrechnen) zur Beschleunigung von Herzschlag und Atmung, zur Verengung der Blutgefäße, zu verringerter Verdauungstätigkeit und verringerten Immunreaktionen führt. Im Gegensatz dazu ist der Parasympathikus als »Erholungsnerv« mit besserer Durchblutung der Haut und der inneren Organe, mit Verdauung, Schlaf und Aufbauprozessen assoziiert. Gesund ist ein flexibles, anpassungsfähiges Wechselspiel beider Äste.

Bei dauerndem Stress reduziert sich die Schwingungs­fähigkeit des Herzens unter der Daueraktivität des Sympathikus. Gestresste Menschen erfahren selbst im Schlaf wenig Erholung, weil die vegetativen Funktionen auch dann noch vom Sympathikus dominiert werden. Auch Depressionen und chronische Krankheiten wie Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen, Herzinfarkt und Diabetes gehen mit einer verringerten HRV einher. Die Vermutung liegt nahe, dass die stressbedingte Daueraktivität des sympathischen Nervensystems über einen permanenten physiologischen Leistungszustand letztlich zur Entwicklung solcher chronischen Erkrankungen beitragen könnte.

Einen positiven Einfluss auf die HRV hat insbesondere die Atmung. Langsames, tiefes Atmen wirkt verstärkend und rhythmisierend auf die Schwingungsfähigkeit des Herzens (so genannte respiratorische Sinusarrhythmie). Das weiß schon der Volksmund: »Erst mal tief durchatmen, bevor man unter Stress handelt« – das Herz schwingt wieder, man kommt wieder in die Lage, flexibel zu reagieren. Verschiedene Studien zeigen, dass sich die HRV durch Maßnahmen verbessern lässt, die auf das Zusammenspiel von Herz und Atmung wirken wie z.B. Sport oder ein gesunder Lebensrhythmus, aber auch künstlerische Sprachgestaltung und Eurythmie.

Abbau- und Aufbauprozesse im Gleichgewicht

Anthroposophisch gesehen lässt sich die Wirkung der beiden Äste des vegetativen Nervensystems in einem erweiterten Zusammenhang verstehen. Rudolf Steiner erläuterte einmal das polare Zusammenspiel des von ihm so genannten »oberen« und »unteren Menschen«. Der »obere Mensch« wird von Rudolf Steiner mit den Funktionen des Nerven-Sinnes-Systems, vor allem also mit den Bewusstseinsprozessen assoziiert, die in erster Linie abbauend wirkten, also »Todesprozesse« im Organismus seien (Sympathikus). Diesem Abbau steht die Tätigkeit des »unteren Menschen« entgegen, die in den Lebensprozessen des Stoffwechsels aufbauend wirkt (Parasympathikus). Während die Nerven-Sinnes-Prozesse mit einem hohen Grad an Wachheit verbunden sind, verlaufen die Aufbauprozesse des Stoffwechsels tief unbewusst. Rudolf Steiner schildert, wie sich die oberen Abbauprozesse in abgeschwächter Form auch in der Atmung finden, während sich die unteren Aufbauprozesse in der Blutzirkulation und im Herzschlag ausdrücken, und kommt zu dem Schluss: »Wenn der Vorgang, der sich abspielt zwischen Puls und Atem, in Ordnung ist, dann ist der untere Mensch mit dem oberen Menschen in einer richtigen Verbindung, und dann muss eigentlich der Mensch … im Grunde gesund sein.«

Wir haben hier eine wunderbare Definition von Gesundheit: Das rhythmisch flexible, anpassungsfähige Zusammenschwingen des oberen, wachbewusst-abbauenden Nerven-Sinnes-Systems mit dem unteren, schlafend-aufbauenden Stoffwechsel­system, vermittelt durch das »richtige« Zusammenspiel von Pulsschlag und Atmung. In der HRV werden diese Zusammenhänge physiologisch greifbar.

Man kann nun vermuten (und dies wäre zu untersuchen), dass sich die physiologischen Grundlagen für die langfristig gesunde Schwingungsfähigkeit des Herzens in der Kindheit und Jugend ausbilden, und dass diese Ausbildung auch von den seelischen Erlebnissen des Kindes beeinflusst wird.

Kinder, die schon in jungen Jahren unter anhaltender intellektueller Beanspruchung und emotionalem Stress stehen, könnten die Anlage zu einer verringerten HRV ausbilden, und damit im späteren Leben eine erhöhtes Risiko HRV-assoziierter chronischer Erkrankungen haben. Erste Untersuchungen zeigen, dass sich in der Zeit der Vorpubertät zwischen dem 7. und 13. Lebensjahr Änderungen im HRV-Muster ergeben. Diese Zeit ist in der Waldorfpädagogik als besonders für die Ausbildung des rhythmischen Systems bekannt, das das Zusammenspiel von »oberem« und »unterem« Menschen durch Puls und Atmung vermittelt. Und gerade in diese Zeit fällt in staat­lichen Schulen der oft stressbelastete Übertritt in eine der verschiedenen, weiterführenden Schulen. Sollten hier physiologische Ursachen für spätere chronische Erkrankungen liegen?

Waldorfschulen sind Vorreiter der Nachhaltigkeit

Die Waldorfschulen werden für ihren fehlenden Leistungsdruck, für die geringere Priorität intellektuellen Lernens und für die Betonung künstlerischer Fächer oft belächelt. In der wirklich künstlerischen Tätigkeit wird aber der rhythmische Ausgleich zwischen dem »oberen« und »unteren« Menschen, zwischen Konzentration und Entspannung, zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Betrachten und Tun geschaffen.

Und gerade dieser Ausgleich könnte eine bedeutende Grundlage lebenslanger Gesundheit sein. Es könnte sich also bewahrheiten, dass die Waldorfschulen als Vorreiter der weltweiten Nachhaltigkeitsbewegung gelten dürfen, indem sie die wichtigste Ressource des Menschen, seine physische, seelische und geistige Gesundheit schon immer in den Mittelpunkt ihres Erziehungskonzepts gestellt haben.

Zum Autor: Dr. Christoph Hueck ist Naturwissenschaftler und Dozent am Waldorflehrerseminar der Freien Hochschule Stuttgart.

Links: www.hrv24.de/index.htm | www.biosign.de/literatur.htm | www.rhythmen.de/downloads/ats_merkurst2.pdf

Literatur:

Rudolf Steiner: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, GA 293, Dornach 1992; Rudolf Steiner: Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst, GA 305, Vortrag vom 19.8.1922. Dornach 1991; Rudolf Steiner: Der unsichtbare Mensch in uns. Das der Therapie zugrunde liegende Pathologische. In: Erdenwissen und Himmelserkenntnis, GA 221, Vortrag vom 11.2.1923. Dornach 1999; Michael Mück-Weymann: Depression modulates autonomic cardiac control: a physiological pathway linking depression and mortality? German J Psychiatry 5 (2002) 67-69; William P. Riordan et al.: (2009) Early loss of heart rate complexity predicts mortality regardless of mechanism, anatomic location, or severity of injury in 2178 trauma patients. J Surg Res 156(2):283 -289; Maximilian Moser et al.: Jede Krankheit ein musikalisches Problem. In: Die Drei 8/9 2004, S. 25-34; Dirk Cysarz et al.: Unexpected course of nonlinear cardiac interbeat interval dynamics during childhood and adolescence. PLoS ONE 2011 6(5): e19400